Tests
26.03.2018, 09:45 Uhr
Klarmachen zum Entern – Sea of Thieves im Test
Inseln erforschen, Schätze bergen, Seeschlachten schlagen: «Sea of Thieves» für Xbox One und Windows 10 verspricht packende Piratenabenteuer. Wir probieren aus.
Computerspiele mit Freibeuter-Thematik haben eine lange Tradition. Ende der 80er-Jahre etwa begeisterte Gamedesign-Legende Sid Meier die Welt mit «Pirates!», einer brillanten Mischung aus Wirtschaftssimulation, Rollenspiel und Echtzeitstrategie. Anfang der 90er-Jahre folgte Ron Gilbert mit dem legendären Point'n'Click-Abenteuer «The Secret of Monkey Island» und 2013 demonstrierte Ubisoft Montreal mit «Assasssin’s Creed IV: Black Flag» eindrucksvoll, wie man das Karibik-Setting mit einem 3D-Action-Abenteuer voll ausreizt. 2018 will nun auch Microsoft ein Stück vom Piratenkuchen abhaben und lässt «Sea of Thieves», eine Produktion des britischen Kult-Entwicklers Rare, nach mehr als vier Jahren Entwicklungszeit endlich in See stechen.
Das Abenteuer beginnt ... etwas holprig
Die grundlegende Struktur von «Sea of Thieves» ist schnell erklärt. Der Spieler wird in eine offene Welt geworfen und hat die Aufgabe, möglichst viel Gold anzuhäufen. Bevor es losgeht, müssen Sie allerdings noch entscheiden, ob Sie alleine oder mit einem Koop-Partner beziehungsweise einer Crew aus bis zu drei verbündeten Seeräubern durchstarten – den Rest erledigen Matchmaking-Algorithmen. Womit wir auch schon beim ersten Stolperstein wäre, denn auch drei Tage nach Spielstart hatte Microsoft noch immer mit Server-Problemen zu kämpfen. Ein Offline-Modus? Steht leider nicht zur Verfügung. Hingegen prima: «Sea of Thieves» unterstützt Cross-Plattform-Play – Windows-10- und Xbox-One-Spieler können sich also problemlos zu einer gefürchteten Korsarenbande zusammenschliessen und das offene angelegte Szenario gemeinsam erkunden.
Grenzlose Freiheit
Das Abenteuer selbst beginnt in einer Taverne. Mithilfe eines Tutorials werden Steuerungsgrundlagen erklärt und dann spielt «Sea of Thieves» auch schon seine erste wichtige Trumpfkarte aus. Denn bereits jetzt kann jeder frei entscheiden, wie er vorgehen möchte. Sie wollen erst einmal die Start-Insel erkunden, Ihre Vorräte auffüllen und dann eine Runde tauchen gehen, um einen Hai zu erlegen? Bitteschön! Oder doch lieber ein kleines Grog-Gelage in der örtlichen Kneipe mit anschliessender Akkordeon-Performance vor malerischem Sonnenuntergangskulisse? Kein Problem!
Um den eigenen Reichtum schnell und effizient zu mehren, macht es allerdings deutlich mehr Sinn, den insgesamt drei Fraktionen einen Besuch abzustatten. Da wären zum Beispiel die Goldsammler. Sie stellen dem Spieler kryptische Schatzkarten zur Verfügung. Findet man die dort skizzierte Insel sowie die mit einem roten X markierte Stelle, reicht kurzes Buddeln im Sand und eine vergrabene Truhe kommt zum Vorschein. Doch Obacht: Die Belohnung können Sie erst kassieren, wenn Sie die Truhe auch tatsächlich zu einem Goldsammlervorposten verschiffen – und das kann je nach Wind und Wetter mit ziemlichen Strapazen verbunden sein.
Eine klassische Auto-Map, wie man sie aus modernen Open-World-Spielen kennt, gibt es in «Sea of Thieves» übrigens bewusst nicht. Wer also wissen möchte, wie er von A nach B kommt, muss regelmässig die Seekarte in der Kapitänskajüte des Schiffes konsultieren, Schatzkarten mit der Umgebung abgleichen und natürlich den Kompass zurate ziehen. Freibeuter-Feeling pur!
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Die Warenkuriere der Karibik und gemeinsam ...
Die Warenkuriere der Karibik
Aber zurück zu den Fraktionen. Numero zwei hört auf den Namen Handelsbund und interessiert sich vor allem für den Transport von Gütern. Nimmt man von diesen geschäftstüchtigen Händlern Aufträge entgegen, gehts in erster Linie darum, Schweine, Hühner oder Schlangen zu finden, diese mithilfe von Käfigen einzufangen und dann unversehrt bei einem vorgegebenen Handelsposten abzuliefern. Klingt simpel, artet aber nicht zuletzt aufgrund einiger wieselflinker Borstentiere in urkomische Einfangsequenzen aus.
Bliebe noch der Seelenorden. Dieser mysteriöse Verbund aus Quacksalbern hat sich ganz dem Studium seltener Skelettfragmente verschrieben und braucht zu diesem Zweck vor allem eines: Grün leuchtende Schädel untoter Seeleute, die man meist in modrigen, gut bewachten Grabstätten findet. Für Action-Fans also genau das Richtige!
Doch egal, für welche Brötchengeber Sie nun Aufträge absolvieren, spannende Drumherum-Geschichten mit lustigen NPCs (non-player characters, also Figuren, die vom PC gesteuert werden), witzigen Zwischensequenzen und dergleichen erzählt «Sea of Thieves» leider nicht. Schade, denn so wirken viele Aufträge trotz wechselnder Örtlichkeiten und steigender Herausforderung nach einer gewissen Zeit ziemlich austauschbar und repetitiv.
Weitere Problematik: Sei es nun Kompass, Säbel oder Holzbein – praktisch alles, was man sich in «Sea of Thieves» bei den örtlichen Händlern kauft, ist kosmetischer Natur und hat keinen spielerischen Nutzen. MMO-typische Talent- und Fähigkeitenbäume sucht man hier daher ebenso vergebens wie neue Waffen-, Werkzeug- oder Schiffs-Upgrades.
Gemeinsam die Weltmeere erobern
Und trotzdem: Speziell in den ersten acht bis zehn Spielstunden macht «Sea of Thieves» unglaublich viel Laune. Ausschlaggebend hierfür ist zum einen der allgegenwärtige Koop-Aspekt und die Eleganz, mit der dieser in den Spielablauf integriert wurde. Seeschlachten zum Beispiel entfalten ihre ganz eigene Faszination, wenn alle an einem Strang ziehen: Spieler A klemmt sich hinters Steuerrad, Spieler B feuert die Kanonen, Spieler C repariert die Löcher im Bug, damit kein Wasser ins Schiff eindringt und Spieler D kraxelt auf den Ausguck, um mit dem Scharfschützengewehr zuzuschlagen. Mit anderen Worten: Teamwork ist bei «Sea of Thieves» Trumpf und sorgt in einer aktiv kommunizierenden Gruppe binnen kurzer Zeit für ein begeisterndes Gefühl der Zusammengehörigkeit.
Zweiter entscheidender Spass-Faktor: Die Welt ist – mal abseits der eigenen Crew – stets von anderen realen Spielern bevölkert, die jeweils ganz eigene Ziele verfolgen. Typische Situation: Sie gehen mit Ihrer Mannschaft vor einer weitläufigen Insel vor Anker, suchen emsig nach Schätzen und stellen dann bei Ihrer Rückkehr zum Schiff entsetzt fest, dass dieses komplett ausgeplündert wurde. Oder schlimmer noch: In Richtung Meeresboden blubbert, weil es eine volle Breitseite Kanonenkugeln abbekommen hat und niemand zur Stelle war, um rechtzeitig die Alarmglocken zu läuten.
Aber auch Seeschlachten erhalten aufgrund der von menschlichen Gegnern bevölkerten Spielwelt eine ganz eigene Dynamik. Während unseres Tests kam es beispielsweise mehrfach vor, dass sich zwei Schiffe auf offener See duellierten, nur um dann von einem dritten Schiff überrascht zu werden, das mit vollen Munitionsvorräten auftrumpfte. Wichtig: Stirbt man bei Schlachten, muss man nur einige Sekunden in der Totenwelt ausharren, bis man wieder mitmischen darf. Die Einsteigerfreundlichkeit ist also auch diesbezüglich gegeben.
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Ein Hingucker und das Fazit
Ein Hingucker – in jeder Hinsicht
Technisch betrachtet stemmt «Sea of Thieves» dank Unreal Engine 4 teils beeindruckende Bilder. Wer sich ausreichend Zeit nimmt, kann unter anderem sehr genau beobachten, wie die Sonne in den Abendstunden am Horizont untergeht und den Ozean in schillerndes Orange taucht. Zeigt sich dann wenig später der Mond am Firmament, reflektiert natürlich auch dessen Glanz in den ständig tänzelnden Fluten.
Apropos Fluten: Die Wellensimulation von «Sea of Thieves» toppt alles, was die Branche bisher hervorgebracht hat und sorgt auch spielerisch für zahlreiche Aha-Momente. Etwa, wenn die eigene Schaluppe mal wieder unsanft gegen einen schroffen Felsen schmettert, weil man sich mitten im einem drei Meter tiefen Wellental befindet und Hindernisse völlig aus den Augen verloren hat. Wirklich grossartig! Und definitiv die neue Messlatte, was Wasserdarstellung in Spielen angeht! Lob gibts darüber hinaus für den charmanten Comic-Look. Piraten, Tiere, Boote – alles wirkt aus einem Guss und wurde mit viel Liebe zum Detail gestaltet.
Akustisch zeichnet sich ein weniger harmonisches Bild. Zugegeben, wenn Holzplanken knarzen, Pulverfässer explodieren, Giftschlangen fauchen, Blitze den Nachthimmel durchzucken und Kanonenkugeln mit voller Wucht Schiffwände zerschlagen, dann hört sich das verdammt gut an. Dass der Entwickler Rare jedoch – obwohl es sich hierbei um ein prominentes Microsoft-Exklusiv-Spiel handelt – nur ganz wenige Dialoge vertonte und dann auch noch auf eine deutsche Synchro verzichtete, ist ehrlich gesagt ein ziemliches Armutszeugnis. Und die Musik? Schwankt zwischen dramatischen, einfach perfekt auf die Situation abgestimmten Klängen bis hin zu nettem, aber immer gleichem Akkordeongedudel.
Fazit
«Sea of Thieves» zeigt beeindruckendes Potenzial, kann dieses unterm Strich aber (bisher) nur teilweise in Langzeitspielspass ummünzen. Denn so motivierend das gemeinsame Schätzesuchen, Tierefangen, Skeletteumnieten und Schiffeversenken anfangs auch sein mag und so schick Grafik und Spielwelt auch aussehen mögen – spätestens nach 15 Spielstunden stellen sich erste Abnutzungserscheinungen ein und man wünscht sich nichts sehnlicher als mehr von allem. Mehr unterschiedliche Schiffs- und Gegnertypen, mehr Aufgabenarten und natürlich mehr Möglichkeiten, mit der Welt zu interagieren. Nicht zu vergessen ein Fortschritts- und Belohnungssystem, das spürbar über schicke Kosmetik-Extras hinausgeht.
Die gute Nachricht: Zukünftige Gameplay-Updates werden aller Voraussicht nach stets kostenlos angeboten. Ausserdem arbeiten die Briten bereits jetzt mit Hochdruck daran, Wünsche der Community umzusetzen (Angeln steht ganz oben auf der Liste). Die Chancen stehen also in der Tat nicht schlecht, dass die Entwickler bis Ende des Jahres ein noch runderes Produkt anbieten können und viele Kritikpunkte der Vergangenheit angehören.
Fürs Erste kann Rare dennoch stolz sein, denn so charmant fühlte sich das virtuelle Piratenleben noch in keinem Videospiel an. Kleiner Tipp für Interessierte: Holen Sie sich für 9 Franken den Xbox Game Pass. Dort nämlich ist die Vollversion des Spiels für einen Monat integriert.
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