Ist das noch Fotografie? 29.07.2021, 11:51 Uhr

Test: Luminar A.I. Update 4

Jetzt sollte ich wohl mit erhobenem Zeigefinger moralaposteln. Doch diese Software macht viel zu viel Spass.
Reingefallen: Diese Szene sah tatsächlich genau so aus
(Quelle: PCtipp.ch)
Die Fotografie ist eine Geschichte der Manipulation und der Fälschung. Damit sind nicht nur zurechtgebogene Pressebilder gemeint. Schon Josef Stalin liess unliebsame Mitmenschen aus dem «fotografischen Gedächtnis» retuschieren. Allerdings sind das extreme Beispiele. Wird nur ein Pickel im Gesicht entfernt, wirft das keine moralischen Fragen auf. Wie steht es mit dem verschwundenen Müll auf der Wiese, weil die Ferien doch nicht so perfekt waren? Selbst die vermeintlich ehrliche Schwarzweiss-Fotografie ist ohne Farbfilter undenkbar. Kurz, es gehört zur Fotografie, nicht authentisch zu sein.

Der Gedanke hinter Luminar A.I.

Diese Einleitung soll Sie ein wenig kalibrieren, bevor Sie den folgenden Text über Luminar A.I. lesen – denn diese Software hilft nicht nur bei der Manipulation der Realität; stattdessen wird sie geradezu zelebriert.
Luminar A.I. (im Folgenden kurz «Luminar») deutet bereits im Namen an, worum es geht. A.I. steht für «Artificial Intelligence», also für künstliche Intelligenz. Bei den ersten Gehversuchen wird klar, dass diese Software anders tickt als die meisten anderen Programme zur Fotobearbeitung. Der Anwender legt über Schieberegler nur noch fest, was er möchte; das Wie übernimmt Luminar. Und dass die Realität manchmal hintenansteht, wird nicht nur geduldet, sondern ist ein Teil des Versprechens.
Der Himmel gehört zu den Klassikern: Zeigt er sich öde und wolkenlos, packen Landschaftsfotografen die Kamera gar nicht erst aus. Wer kann es ihnen verdenken? Aber in den Ferien können Sie nicht einfach nach einem Monat einen neuen Anlauf nehmen. Stattdessen wird die Erinnerung zuhause am Rechner ein wenig aufgepeppt:
Waren die Wolken wirklich so gefällig wie auf dem oberen Foto? Eigentlich nicht; aber es hätte ja sein können.
Quelle: PCtipp.ch
Die Himmels-Funktionen gibt es sogar in zwei Ausführungen: Himmel A.I. sorgt für Wolken und sogar Sonnenuntergänge. Augmented Sky A.I. wiederum setzt weitere Elemente ein; dazu gehören Vogelschwärme oder Ballons, aber auch Planeten und ganze Galaxien. Spätestens hier wird es schwierig, das Publikum von der Echtheit der Szene zu überzeugen.
Die Ferien waren … ungewöhnlich
Quelle: PCtipp.ch
Dabei geht Luminar sehr konsequent und raffiniert vor. In diesem Beispiel wurde der Himmel ersetzt, was dem Bild eine völlig andere Anmutung verleiht. Dass der Eindruck stimmt, liegt aber vor allem daran, dass die Spiegelung im Wasser an die neue Situation angepasst wurde:
Im Wasser wird die Spiegelung dem neuen Himmel angepasst
Quelle: PCtipp.ch

Es gibt viel zu tun

Der Himmel ist vielleicht die grösste Versuchung, weil die Wolken so glaubhaft sind und die Maskierung des Vordergrundes so gut funktioniert. Doch darüber hinaus warten noch viele andere Regler, die sich am besten mit der kostenlosen Demoversion erkunden lassen, die auf der Website des Herstellers zu finden ist.
Dabei kennt Luminar sehr wohl klassische Regler für die Optimierung der Lichter, Schatten und mehr – doch die gibt es in jeder Software. Interessant wird es dann, wenn die Lichtstimmung verändert, Elemente hinzugefügt oder der Aufbau verändert wird. So kümmert sich Bildaufbau A.I. um einen neuen Ausschnitt, falls der Fotograf bei diesem Thema nicht so sattelfest ist. Meistens leistet Luminar Erstaunliches, doch nicht alle Funktionen arbeiten gleich gut. Radieren haben wir in anderen Programmen schon besser gesehen:
Niemand mag fremde Menschen … und schon gar nicht im Bild
Quelle: PCtipp.ch
Also doch Photoshop (ausnahmsweise)
Quelle: PCtipp.ch
Enhance A.I. wiederum verbessert die Belichtung und die Stimmung. Ohne diesen Regler als ersten Arbeitsschritt geht fast gar nichts, und darum steht er zu Recht ganz oben. Andere Funktionen wie Superkontrast oder Struktur A.I. heben die Kontraste in den Mitteltönen an und sorgen für knackige Bilder. In anderen Programmen wie Lightroom oder Capture One entsprechen sie vermutlich am ehesten der Funktion Klarheit. Luminar kann es allerdings besser, weil das Gesicht und die Haut automatisch von der Behandlung ausgenommen werden – denn Haut wird mit Klarheit nicht schöner, im Gegenteil. Und so geht es Schlag auf Schlag. Bei Gesichtern lassen sich die Augen aufhellen, die Lippen hervorheben oder die Zähne bleichen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Die Funktionen sind da … aber was gibt es bei einem solchen Gesicht noch zu verbessern, Syklum? (Mitgeliefertes Übungsbild)
Quelle: Skylum
Die Funktion Stimmung wiederum legt zum Beispiel einen feinen Nebel über die Szene. Texturen sorgen hingegen für simulierten Lichteinfall oder einfach für eine märchenhafte Kulisse.
Texturen und Einblendungen sorgen für eine malerische, verträumte Stimmung
Quelle: PCtipp.ch
Natürlich lassen sich alle diese Effekte auch in Photoshop realisieren. Doch das bedingt nicht nur viel Können, sondern auch jede Menge Zeit und die passenden Assets: Nicht alle von uns können auf 30 eindrückliche Himmelsformationen zugreifen. Luminar hingegen macht diese Aufgaben auch für jene Fotografen zum Klacks, die bis anhin mit der Bildverarbeitung nichts am Hut hatten.

Bokeh A.I.

Diese Funktion gehört zu den Neuerungen im Update 4 – und sie nicht weniger spektakulär als die anderen. Sie erkennt zwar keine Tiere und erst recht keine Objekte, aber Menschen umso besser. Die werden innerhalb von Sekunden maskiert und freigestellt, während der Rest in der künstlichen Unschärfe verschwindet. Dabei erfasst die Software nicht nur den Oberkörper, sondern die ganze Person – oder sogar mehrere, etwa bei Paaren oder Gruppenfotos.
Und die Resultate beeindrucken! Dieselbe Funktionalität bietet zwar auch das iPhone 12 Pro mithilfe des LiDAR-Scanners und andere High-End-Smartphones, aber Luminar liefert eine deutlich bessere Show. Die klassischen Kameras ohne Software-Tricks profitieren von dieser Funktion vor allem dann, wenn das Porträt im gleissenden Licht mit Blende ƒ8 statt ƒ2 aufgenommen werden muss. Luminar sorgt bei unscharf gemachten Spitzlichtern sogar für «Blobs»: So nennt man den Effekt, wenn kleine helle Lichtquellen grösser und weicher werden.
Die meisten Masken stimmen auf Anhieb, aber bei Bedarf lassen sie sich manuell oder mit Schiebereglern korrigieren:
Die Maske sitzt meisten auf Anhieb, lässt sich aber mit Schiebereglern und Pinsel verfeinern
Quelle: PCtipp.ch
Dabei ist es wichtig, dass zuvor kein anderer Bokeh-Effekt angewandt wurde, der ins Resultat pfuscht. Deshalb sollten Sie die Funktion auf dem Smartphone deaktivieren. Beim iPhone ist das einfach: Öffnet Luminar ein Bild im HEIC-Format mit Porträt-Effekt, so wird die Tiefenmaske automatisch verworfen.

Luminar als Fotos-Extension

Luminar für Mac und Windows wird mit Plug-Ins geliefert, damit die Funktionen direkt in Photoshop und Lightroom genutzt werden können. Doch mein Integrations-Highlight ist Möglichkeit, Luminar als Foto-Extension am Mac zu verwenden. Das heisst, ein Bild kann in der Fotos-Anwendung direkt mit den Funktionen von Luminar bearbeitet werden.
Wie auch allen anderen Foto-Extensions kann Luminar das Original im Hintergrund nicht überschreiben, auch wenn nur die modifizierte Version zu sehen ist; so ist es jederzeit möglich, zum ursprünglichen Zustand zurückzukehren.
Vorbildlich: Luminar klinkt sich als Extension direkt in Apples «Fotos» ein
Quelle: PCtipp.ch
Die Verwendung als Extension hat allerdings den Nachteil, dass keine Stapelverarbeitung innerhalb von Fotos möglich ist. Stattdessen muss die Luminar-Anwendung hinzugezogen, ein Bild angepasst und der Rest markiert werden, bis schlussendlich im Menü «Bild» unter «Anpassungen» der Befehl «Anpassungen synchronisieren» seine Wirkung entfalten kann. Das ist auch bei anderen Extensions so, aber hier vermisse ich die Leichtigkeit, mit der Lightroom oder Capture One die Änderungen auf einen ganzen Bilderstapel automatisch anwenden, ohne dass über Umwege und durch die Menüs geturnt werden muss.

Jetzt aber ernsthaft!

Die meisten Funktionen zielen darauf ab, mit möglichst wenig Aufwand eindrucksvolle, teilweise utopische Resultate zu erzielen. Doch das ist nicht die ganze Wahrheit. Luminar bietet auch gehobene Funktionen für die Rauschunterdrückung oder für die Korrektur von Objektiv-Verzeichnungen und stürzenden Linien. Das gehört sich für eine anständige Foto-Software – aber weil es das Gros der Funktionen auf die Manipulation der Wirklichkeit ausgelegt, will bei mir der Funke noch nicht so recht überspringen. Aber das kommt bestimmt noch.
Nicht alles an Luminar ist Jux und Dollerei
Quelle: PCtipp.ch
Luminar funktioniert mit JPEG- und mit RAW-Dateien. Die lange Liste der unterstützten Kameras finden Sie hier. Interessanterweise kommt die Software mit einem eigenen RAW-Converter, statt sich wie viele andere Programme am Mac auf den systemeigenen RAW-Converter von Apple zu verlassen. So ist die Bearbeitung von komprimierten RAW-Aufnahmen aus einer Fujifilm-Kamera kein Problem, während die Fotos-Anwendung von macOS daran scheitert.

Mehr Vorlagen gehen ins Geld

Luminar hat seinen Preis. Im günstigsten Fall kostet eine Lizenz für einen Rechner umgerechnet etwa 85 Franken, einmalig. Eine Lizenz für zwei Rechner kostet etwa 108 Franken, dafür gibt es das «Bezaubernde Abenddämmerung Himmels-Paket» dazu, das 25 weitere Himmeleien bietet.
Und das ist erst der Anfang. Im hauseigenen Marktplatz werden unzählige Vorlagen, Objekte, Texturen und mehr für klingende Münze feilgeboten. 25 verschiedene Aufnahmen der Milchstrasse? Das macht 42 Franken; dafür fotografieren Sie die Savanne bereits in der Mittagspause. Am Abend genehmigen sich dann einen Drink an der Bar, statt mithilfe des Stativs die perfekte Langzeitbelichtung hinzupfriemeln. (Ja, dieses Vorgehen ist so grenzwertig, wie es klingt. Aber wer will darüber urteilen?)
An Nachschub an Vorlagen herrscht offenbar kein Mangel
Quelle: PCtipp.ch
Und so weiter. Aber das Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht. Alternativ werden Sie für 42 Franken pro Jahr Mitglied in einem Club; dafür erhalten Sie zahlreiche Luminar-Vorlagen, Himmelstexturen und mehr.
Schnell fühlt man sich wie in einem Free-to-Play-Spiel à la Candy Crush, das einem immer neuen Tand aufs Auge drücken will – mit dem subtilen Unterschied, dass der Einstieg in Luminar nicht kostenlos ist. Überhaupt würde es Luminar gut stehen, wenn der Hersteller Skylum eine etwas weniger aggressive Verkaufsschiene fahren würde, die fast täglich zu einer neuen E-Mail im Briefkasten führt.
Doch es muss gesagt werden, dass Luminar auch ohne Zukäufe ein stimmiges und vollständiges Werkzeug ist, das nie zurechtgestutzt wirkt, weil es weitere Einnahmen generieren soll.

Fazit

Es juckt in den Fingern. Natürlich möchten wir möglichst authentische Fotos. (Oder zumindest erzählen wir das.) Aber ist es wirklich schlimm, wenn dem Himmel auf die Sprünge geholfen oder die Haut bereinigt wird? Oder sogar der Bauch ein wenig mehr eingezogen wird, als es der aktuelle BMI zulässt? Wo endet die Erinnerung und wo beginnt die (Selbst-) Täuschung?
Zum Glück liegt die Deutungshoheit ganz bei Ihnen. Ich habe mich jedenfalls entschlossen, dass Luminar A.I. ein fester Bestandteil meiner fotografischen Werkzeugkiste bleibt. Zu spannend sind die Funktionen. Damit sind weniger die künstlichen Vogelschwärme oder fremde Galaxien gemeint. Allein die cleveren Kontrast-Algorithmen oder die Porträt-Funktionen machen die Anschaffung lohnend.
Luminar A.I. ist ausserdem ein Segen für Hochzeitsfotografen: Den meisten Bräuten ist es nicht so wichtig, wie der Himmel am schönsten Tag ausgesehen hat. Doch jetzt, auf den Fotos, hat er einfach perfekt zu sein, denn Instagram verzeiht keine Fehler. Na, wenn weiter nichts ist …

Testergebnis

Einfache Bedienung, grosser und sehr gut strukturierter Funktionsumfang, überzeugende Resultate, arbeitet als Plug-In, vielseitig erweiterbar, viele Vorlagen gegen Aufpreis verfügbar
Etwas umständliche Stapelverarbeitung, Lizenzverwaltung nur im Web

Details:  Ab Windows 10 (64 Bit), ab macOS 10.13.6 (optimiert für M1), Plug-In für Photoshop, Lightroom Classic und Apple Fotos

Preis:  ab 85 Franken (einmalig)

Infos: 


Kommentare
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renelutz
29.07.2021
Beim Radieren müssen Sie halt noch etwas üben Herr Zellweger....