Verlegt statt verloren
04.05.2021, 09:12 Uhr
Test: Apple AirTags
Apples Silberlinge helfen, verschollenes Zeugs zu finden. Nichts anderes wird erwartet – auch wenn die Fantasie Purzelbäume schlägt.
AirTag: die beste Pille gegen Zerstreutheit
(Quelle: Apple Inc.)
Zwei Jahre lang garten sie in der Gerüchteküche, jetzt sind die AirTags endlich da. Die weissen Tracker sind fast exakt gleich gross wie ein Fünfliber und nicht viel dicker als die CR2032-Knopfzelle, die sie antreibt. Diese Batterie soll etwa ein Jahr lang halten und lässt sich vom Benutzer austauschen.
Als wäre der Umfang genormt
Quelle: PCtipp.ch
Die Installation ist ein Klacks. Sie wird vermutlich von jedem Kind gemeistert, das alt genug ist, um so ein Ding nicht aus Jux zu verschlucken. Ein AirTag wird einfach aus dem Schutzpapier gepult, damit die Batterie ihre Wirkung entfaltet: Das AirTag gibt ein angenehmes Geräusch von sich und wirft sich dem nächsten iPhone an den Hals.
Die Einrichtung dauert keine Minute. Sie dreht sich primär um die Frage, wie der weisse Knopf heissen soll und welches Emoji ihn schmückt. Und das war’s auch schon. Anschliessend wird das AirTag mit dem iPhone oder über das Internet geortet. Wenn die AirTags direkt bei Apple gekauft werden, lassen sich bis zu vier Zeichen und/oder Emojis kostenlos gravieren.
«Dort wo du es hingelegt hast!»
Wenn ein AirTag gefunden werden soll, deutet das iPhone angenehm-kommentarlos in seine Richtung. Wie präzise die Ortung funktioniert, hängt vom iPhone ab. Die AirTags sind mit Apples eigenem U1-Chip ausgestattet und der muss auch im iPhone verbaut sein. Das sind aktuell nur das iPhone 11 (Pro) sowie alle iPhone-12-Modelle. Wahrscheinlich wird der U1 künftig in allen iPhone-Modellen zum Einsatz kommen. Hingegen zeigt die Apple-Website zurzeit keinen Hinweis darauf, dass es der Chip in das angekündigte iPad Pro schafft.
Wie auch immer. Wenn sich alle mit dem U1 verstehen, verwandelt sich das iPhone in eine Wünschelrute. In der App ‹Wo ist?› wird das AirTag angetippt, damit das iPhone nach einigen Sekunden punktgenau zum Standort führt – untermalt von Klängen, haptischen Hinweisen und Farben. Dabei werden ARKit, der Beschleunigungsmesser und das Gyroskop einbezogen. Kommt das iPhone ohne U1, ist immer noch die Verbindung über Bluetooth möglich, um dem AirTag einen Ton zu entlocken.
Dabei ist die Reichweite der Bluetooth-Verbindung nicht unbegrenzt. Sie beträgt bei Sichtkontakt etwa 30 Meter. In meinem Fall reichte das Signal gerade noch, um eine Wand zu durchbrechen. Hingegen wird das AirTag nicht gefunden, wenn eine zweite Wand oder einfach nur eine Betondecke dazwischen liegt – und dann hilft auch die Funktion «Ton abspielen» nicht weiter. In solchen Situationen hilft nur, mit dem iPhone in der Hand durch die Wohnung zu schleichen und nach Strahlung zu suchen – denn so läuft das bei den Wünschelruten.
Draussen im Feld
Sehr viel interessanter ist die Suche nach Objekten, die sich im Freien befinden. Dabei greift Apple auf das eigene ‹Wo ist?›-Netzwerk zurück. Es steht seit kurzer Zeit auch anderen Anbietern offen, sodass sich diese einstige Funktion zu einer richtigen Plattform mausert. Ein AirTag, das von seinem Besitzer getrennt ist, verbindet sich dazu mit einem fremdem iPhone in der Nähe, um seine Position an das ‹Wo ist?›-Netzwerk weiterzugeben. Das geschieht anonym. Keiner der beteiligten Akteure gibt irgend etwas von sich preis und auch Apple weiss von nichts; es wird im Dienst lediglich die Position eingetragen.
Dieses Verfahren ist nicht ganz neu. Der grosse Vorteil von Apple ist allerdings die enorme Menge an iPhones, die sich in Umlauf befindet. Die kritische Masse ist also vom ersten Moment an vorhanden, es braucht keine Aufbauarbeit. Allerdings gilt das nur für urbane Gegenden; wird das AirTag irgendwo im Dschungel verloren, dann wird es dort wohl für immer bleiben.
Die Aktualisierung des Standortes erfolgt deutlich langsamer, als wenn eine Person über ‹Wo ist?› getrackt wird. Ihre Position wird fast im Minutentakt aktualisiert, während ein AirTag auf Reisen auch gerne einmal mit einer halben Stunde Verspätung angezeigt wird. Hier zur Abwechslung die Lokalisierung am Mac:
Verloren und wieder vereint
Kommt ein AirTag abhanden, kann er vom Besitzer als «Verloren» markiert werden, zusammen mit einer kurzen Nachricht und einer Telefonnummer.
Ein Finder wiederum muss das AirTag lediglich an sein NFC-fähiges Smartphone halten, damit sich im Browser ein neues Fenster öffnet, in dem die Nachricht und die Telefonnummer gezeigt werden. Das funktioniert mit iPhones und mit Android-Geräten gleichermassen.
Auf jeden Fall bleibt das AirTag an die Apple-ID des Besitzers gekoppelt. Ein unehrlicher Finder kann den weissen Knopf also nicht zurücksetzen und für eigene Zwecke einspannen.
Der Traum aller Stalker?
Drehen sich die Diskussionen im Internet um die neuen Möglichkeiten? Den U1-Chip? In welchen Geräten diese Technologie künftig zum Einsatz kommt? Ja; aber vor allem wird darüber debattiert, ob und wie sich die AirTags dazu missbrauchen lassen, um andere Personen gegen ihren Willen zu verfolgen. Ganz offensichtlich sehen wir in unseren Mitmenschen viel Potenzial für Missetaten.
Ein fast schon klassisches Beispiel: Junge trifft Mädchen in Club. Er liebt sie sofort und für immer. Sie ihn eher nicht. Aber das ist bestimmt nur ein Missverständnis. Also steckt er heimlich ein AirTag in ihre Tasche und findet noch am gleichen Abend heraus, wo sie wohnt. Der Salat ist angerichtet.
Natürlich schiebt Apple einen Riegel vor, aber robust sieht anders aus. Eine Spielregel besagt, dass sich ein AirTag meldet, wenn es sich bewegt und längere Zeit vom Besitzer getrennt ist. Das «bewegt» ist wichtig, weil sich ein AirTag nicht bemerkbar macht, wenn es zuhause nur rumliegt, während sein Besitzer auf Reisen ist.
Zurück zum Thema. Zuerst muss das AirTag vom zugehörigen iPhone getrennt werden; denn solange die Verbindung besteht, scheint alles in Ordnung zu sein. In einem Lokal ist das nicht so schnell der Fall, solange sich der Besitzer in der Nähe aufhält. Kommt es später tatsächlich zum Unterbruch der Verbindung, meldet das iPhone der verfolgten Person, dass sich ein herrenloses AirTag in der unmittelbaren Nähe befindet. Wird kein iPhone verwendet, macht sich das AirTag mit Tönen bemerkbar. Laut Apple ist das nach drei Tagen der Fall.
Nach geschlagenen drei Tagen. Na dann …
Gemäss Apple läuft die ganze Verbindung verschlüsselt und anonym ab. Nicht einmal Apple weiss, wo sich ein AirTag befindet oder welche Geräte bei der Suche involviert waren. Hingegen ist das Unternehmen sehr wohl in der Lage, ein AirTag aufgrund der Seriennummer seiner Apple ID zuweisen. Marschiert das Opfer mit der piepsenden weissen Pille zur Polizei, kann diese die Identität des Besitzers bei Apple nachfragen. Wie das abläuft und was es dazu braucht, hängt von den Gesetzen des jeweiligen Landes ab.
Schlussendlich ist solcher Missbrauch jedoch nicht zu verhindern; aber wer es darauf anlegt, kann alles zweckentfremden. Apple sollte jedoch in meinen Augen den Zeitraum deutlich herabsetzen, innerhalb dem sich ein AirTag zu erkennen gibt.
Sinn, Unsinn und ein Fazit
Abgesehen von der Frage, ob sich die AirTags zum Stalking eignen, dominiert vor allem die Frage nach dem Wozu die Diskussion.
Kann man damit Haustiere tracken? Nicht wirklich; denn wenn sich Mauzi in den Wald verzieht, abseits aller iPhones, bricht das Tracking ab. Ausserdem dauert die Aktualisierung des Standortes sowieso zu lange; bis Sie dort ankommen, frisst Mauzi längst zweihundert Meter weiter den nächsten Vogel. Für solches Tracking bietet der Markt spezielle Halsbänder, die neben einem GPS-Modul eine SIM-Karte für den mobilen Internet-Empfang bieten.
Es geht doch nichts über ein wenig Individualität
Quelle: PCtipp.ch
Dann wenigstens als Diebstahlschutz? Kann man machen – aber das AirTag wird vermutlich schnell entdeckt. Das läuft dann darauf hinaus, dass Sie neben dem gestohlenen Objekt auch noch den Verlust des AirTags zu betrauern haben.
Und die Familie? Ein weiterer Punkt betrifft Gegenstände, die für die ganze Familie relevant sind, wie zum Beispiel Auto- oder Haustürschlüssel. Diese Gegenstände lassen sich zurzeit nur vom Besitzer des AirTags aufspüren, aber nicht von anderen Personen innerhalb derselben Familienfreigabe. Sie müssten also eine ganze Traube von AirTags an einen Schlüssel montieren, damit ihn alle finden können. Ob das gut oder schlecht ist, hängt von der Situation ab, denn auch hier soll dem Tracking von Personen Einhalt geboten werden, etwa durch übervorsichtige Eltern. Es bleibt aber die Hoffnung, dass sich dieses Verhalten durch ein Software-Update in der Zukunft noch ändert. Es ist schliesslich immer gut, eine Wahl zu haben.
AirTags sind Dinge-Finder
Kurzum: Die AirTags sind dazu da, um verlegte Dinge wiederzufinden – nicht mehr und nicht weniger. Auch zeigen die Diskussionen im Internet, dass es gar nicht so einfach ist, einen Nutzen zu finden. Natürlich bietet sich der Schlüsselbund an, der von Apple mit dem passenden Zubehör abgedeckt wird, bis hin zu den semi-preiswerten Alternativen von Hermes. Ein weiteres AirTag in die Jacke oder in den Reisekoffer stecken? Auch das ist bestimmt sinnvoll.
In Ermangelung eines Schlüsselbundes werde ich ein AirTag in die Notebook-Tasche stecken – also in jene Tasche, die sich seit einem Jahr keinen Millimeter bewegt hat. Etwas anderes fällt mir gerade nicht ein. Aber das kann bei Ihnen natürlich ganz anders sein.
Fazit
Die AirTags zeigen, wie ein Dinge-Finder funktionieren muss, damit er angenehm zu benutzen und zu verwalten ist. Die schiere Menge an iPhones sorgt ausserdem dafür, dass die Chance auf ein Wiedersehen sehr hoch ist. Wenn Sie als Apple-Anwender einen Verwendungszweck erkennen, finden Sie zurzeit wohl nichts Besseres. Und wenn nicht, ist das ja auch schön. Das schmälert die Qualitäten des Systems jedoch in keiner Weise.
Testergebnis
Grösse, ‹Wo ist?›-Netzwerk, Genauigkeit in Innenräumen, durchdachte Funktionen
keine Befestigung im Lieferumfang
Details: W1-Chip, Bluetooth, NFC, Bewegungsmesser, wasserfest nach IP67 (bis zu 1 Meter für 30 Minuten), Lautsprecher, 11 Gramm
Preis: 1 Stück 35 Franken, Set mit 4 Stück 119 Franken
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