News 20.02.2014, 13:28 Uhr

Echter Spaziergang durch virtuelle Welten an der ETH

ETH-Forscher Thomas Nescher entwickelte ein System, das in virtuellen Umgebungen echtes, freies Gehen ermöglicht. Damit lassen sich Pläne für Gebäude oder Fertigungsstrassen vorab auf Herz und Nieren prüfen.
Die Türe steht offen, rechts knistert ein Kaminfeuer, draussen vor der Türe scheint die Sonne, Schmetterlinge flattern vorbei. Der Boden ist mit Tonplatten belegt. Die Decke ist aus Holz, mächtige Balken tragen das Dach. Einige Schritte nur, dann steht man auf der Terrasse, sieht Bäume und grüne Hügel. Nach kurzem Innehalten kann man rechts um die Ecke des Landhauses gehen. Es lockt ein Blick von der Klippe aufs Meer, über dessen Wellen Möwen kreisen. Dann setzt man die Brille ab. Und statt vor einem Landgut in Italien steht man in einem 7 x 12 Meter grossen Raum im Keller des CLA-Gebäudes der ETH Zürich. Neonröhren leuchten kalt von der Decke, schwarze Bodenplatten, Sichtmauerwerk aus grauen Backsteinen. Die Illusion, mal eben schnell durch ein Haus in der Toskana spaziert zu sein, war beinahe perfekt.

Echtes Gehen in virtueller Welt

Thomas Nescher ist Doktorand im Innovation Center Virtual Reality (ICVR) unter der Leitung von Andreas Kunz am Institut für Werkzeugmaschinen und Fertigung (IWF). Er hat in den vergangenen Jahren ein neuartiges System entwickelt, das «echtes Gehen in virtuellen Umgebungen» (engl.: Real Walking in Virtual Environments, ReWaVE) ermöglicht. Dabei kann ein Anwender ohne gefühlte Beschränkung eine virtuelle Umgebung erkunden, und zwar durch echtes Gehen in einem wesentlich kleineren realen Raum.
Virtuelle Umgebungen sind an sich nichts Neues. Flugsimulatoren, Computerspiele wie Sims oder auch Systeme zur Rehabilitation haben es ermöglicht, in digitale Realitäten einzutauchen, um beispielsweise bestimmte Fertigkeiten zu erlernen. Auch gibt es bereits Systeme, die durch den Einsatz sogenannter «Treadmills» ein beinahe echtes Gehen simulieren. Solche Systeme sind jedoch aufwendig und das Gefühl echten Gehens wird nicht vermittelt.
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Fast perfekte Illusion

Fast perfekte Illusion dank cleverem Algorithmus

Um in den virtuellen Welten von ReWaVE spazieren zu gehen, ist verhältnismässig wenig Zubehör nötig: Gebraucht werden ein Head-Mounted Display (HMD) mit einem zur Decke gerichteten Positionsmessgerät und ein Laptop, der auf einem Traggestell mitgeführt wird. Weiter braucht es pro Quadratmeter Deckenfläche drei schwarz-weisse, kreisrunde Referenzmarkierungen sowie den von Nescher entwickelten Algorithmus.
Die Deckenmarkierungen dienen dem Messgerät auf dem HMD dazu, die Position des Anwenders sowie seine Kopfbewegungen zu erkennen. Im Laptop werden diese Daten in Echtzeit ausgewertet. Ohne wahrnehmbare Verzögerung sieht der Gehende die virtuelle Umgebung, die der Computer berechnet und in den HMD einspielt.

Trickreiche Redirektion

Solange der virtuelle Raum nicht grösser ist als der tatsächliche, ist dessen Erkundung kein Problem. «Um eine grössere virtuelle Welt in einem begrenzten Raum begehen zu können, braucht es allerdings einige Tricks», sagt Nescher.
Der wichtigste Kniff ist die sogenannte Redirektion. Sie verhindert, dass der Anwender in der realen Welt in eine Wand prallt. Damit er möglichst ungestört die virtuelle Umgebung begehen kann, müssen verschiedene Redirektionsmethoden intelligent voraus geplant werden. Dazu muss das System wissen, wo der Mensch im realen Raum ist und welche Laufrichtungen ihm die virtuelle Welt anbietet. Im Prinzip ist dann die «Kompression» eines Pfads von einem grossen virtuellen Raum auf einen kleinen realen Raum ein regelungstechnisches Problem. Der Algorithmus schätzt die zukünftigen Laufpfade des Anwenders ab und berechnet in Echtzeit die beste Art und Weise, um ihn im Inneren des echten Raums zu halten.
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Häuser virtuell begehen

Über die Bildinformationen im HMD steuert die Software die Bewegungen des Anwenders, und zwar in Abhängigkeit davon, wo er sich im realen Raum befindet und wohin er in der virtuellen Welt mutmasslich weitergeht. Der Laufpfad wird kontinuierlich so verändert, dass der Anwender nicht gegen echte Wände läuft.
So kann der Algorithmus den Anwender beim Abbiegen an einer Ecke dazu bringen, sich statt um 90 Grad nur um 70 oder gar um 135 Grad zu drehen. Dennoch hat er das Gefühl, eine 90-Grad-Drehung gemacht zu haben. Dies alles führt dazu, dass der Anwender im realen Raum einen gekrümmten Weg einschlägt, der sich vom virtuell zurückgelegten Pfad unterscheidet.
Nicht spürbare Redirektionsmethoden haben jedoch ihre Grenzen. Überschreitet man sie, würde dies vom Anwender bemerkt werden. Reicht eine unmerkliche Redirektion nicht mehr aus, um den Anwender im realen Raum zu halten, wird eine andere verwendet. Diese Methode bringt den Anwender dazu, sich um die eigene Achse zu drehen. Dazu blendet der Algorithmus beispielsweise einen Pfeil ein, in dessen Richtung man sich einmal drehen muss. Dies erlaubt es, die Rotation zu verstärken und damit den Anwender optimal im realen Raum auszurichten. Damit kann er auf derselben virtuellen Strecke ohne spürbare Unterbrechung weitergehen.

Häuser virtuell begehen

Sich in einer virtuellen Welt zu bewegen, mag spielerisch anmuten. Thomas Nescher sieht aber bereits Anwendungen für seine Arbeit. ReWaVE könnte für Architekten interessant sein, die damit ihre Entwürfe vor der realen Umsetzung virtuell begehen und so Schwachpunkte in ihren Plänen aufdecken können. Für Industrieunternehmen ist Neschers Software ebenfalls eine attraktive Möglichkeit, um geplante Produktionslinien virtuell zu testen, ehe sie diese bauen. Bis anhin haben solche Unternehmen in Lagerhallen Modelle von Fertigungsstrassen erstellt, um ergonomische, sicherheitstechnische oder zeitabhängige Aspekte zu untersuchen. Virtuelle Umgebungen könnten diese Modelle künftig ersetzen. Erste Firmen wie Daimler und Bosch sind bereits auf Neschers System aufmerksam geworden.
Noch ist die Entwicklung von ReWaVE nicht abgeschlossen. In Kürze werden die Beine und Arme des Anwenders in die virtuelle Welt integriert werden, sodass er diese beim Gehen sehen kann. Neschers Nachfolger am ICVR/IWF, der Doktorand Markus Zank, wird die Arbeit an diesem System weiterführen. Zank hat während seiner Masterarbeit daran gearbeitet, passende Schrittgeräusche wie das Knirschen von Kies in die virtuelle Welt zu integrieren, um den Eindruck echten Gehens zu verstärken. In Zukunft wird weitere Grundlagenforschung notwendig sein, um zu untersuchen, wie menschliches Laufverhalten besser vorausgesagt werden kann. Das soll eine noch bessere Planung der Redirektion ermöglichen.



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