Kommentar
08.11.2021, 07:45 Uhr
Die Schweiz und 5G: Gut organisierter Widerstand
Die gute Nachricht zuerst: Im Frühjahr veröffentlichte der Bund neue Vorgaben, die Klarheit darüber geben sollen, wie die Strahlung adaptiver Antennen zu berechnen ist. Diese stehen im Zentrum des gut organisierten Widerstands gegen 5G. Ist nun alles gut? Mitnichten.
Bereits 2019 wurde vor dem Bundeshaus in Bern gegen den 5G-Ausbau protestiert
(Quelle: Keystone/Anthony Anex)
Seit Jahrzehnten werden die Schweizer Mobilfunknetzbetreiber bei der Einführung jeder neuen Mobilfunkgeneration mit Einsprachen und Skepsis überhäuft. Gleichwohl konnten sie vor der Einführung von 5G stets darauf vertrauen, dass Aufrüstungen bestehender Standorte mehr oder weniger unbürokratisch genehmigt werden. Dies lag auch bei 5G nahe, nutzt es doch Frequenzbänder und Übertragungsverfahren, die der Vorgängergeneration 4G/LTE ähneln.
Denn 5G ist dessen Weiterentwicklung und nutzt ähnliche Modulationsverfahren, ist aber weitaus effizienter. Neben fast 1000-mal höherer Datenübertragungsgeschwindigkeit gegenüber UMTS/3G und 10-facher bei LTE/4G braucht 5G nur noch 0,16 Watt pro Mbit übertragender Daten statt 33 Watt bei UMTS und 1,4 Watt bei LTE/4G.
Blockade total
Trotzdem werden Bauanträge für 5G-Sender insbesondere in der Westschweiz – seit 2020 leider auch in der Deutschschweiz – gar nicht bearbeitet oder sistiert, nicht selten mit fadenscheinigen Begründungen. Die Bauvorsteher der jeweiligen Gemeinden fürchten den Widerstand der oftmals gut organisierten Bevölkerung und deren entsprechende Quittung bei den nächsten Gemeinderatswahlen. Bei den Kantonsparlamenten sieht es ganz ähnlich aus. Also fasst man das heisse Eisen 5G gar nicht erst an und verweist auf Vorgaben vom Bund.
Einsprachen werden fleissig eingereicht
In der Schweiz gilt das Verbandsbeschwerderecht. Daher wird seit Ende der 1990er-Jahre der Mobilfunkausbau durch Einsprachen von Vereinen begleitet, die nicht zwingend vor Ort sein müssen, aber die Grenzen des gesetzlich möglichen Widerstands genauestens kennen.
Leider hat dies bei der neuen Mobilfunkgeneration eine ganz neue Dimension eingenommen, auch aufgrund der Verbreitung von Verschwörungstheorien auf Social-Media-Kanälen. In den Niederlanden starben wegen 5G angeblich Vögel, obwohl damals 5G noch gar nicht eingeführt war. Und hierzulande spürt man oft schon die negativen Auswirkungen der Strahlen, lange bevor die Sender de facto in Betrieb genommen werden. Ähnlich wie Windräder wurden Mobilfunkantennen zum Feindbild.
Anschläge auf 5G-Sender
Leider wird der Bau von 5G-Mobilfunkantennen auch durch Beschädigungen immer wieder abgebremst. So wurde Mitte März ein 5G-Sender von Sunrise UPC in der Nähe von Thun in Brand gesetzt, wobei der Täter inzwischen gefasst werden konnte. Ähnliche Fälle häufen sich besonders im Kanton Bern. Seit Ende 2018 wurden 5G-Anlagen in Burgdorf, Langenthal, Grosshöchstetten, Thun und Kiesen demoliert oder zerstört.
Auch Fahrzeuge und Gebäude der Provider werden beschädigt sowie Servicetechniker oder Shop-Mitarbeitende bedroht. Seit Ausbruch der Pandemie haben sich solche Vorgänge verschärft und dienen wohl auch als Ablassventil für Frust gegen die Corona-Massnahmen.
Physikalische Fakten
Im Kontakt mit Mobilfunkgegnern fällt auf, dass praktisch alle von ihnen ein Smartphone nutzen und mehrheitlich keine technische Ausbildung absolviert haben. Und sie argumentieren mit Fakten, die keine sind – so die häufig vorgebrachte «flächendeckende Verstrahlung der Schweiz mit hochenergetischen Millimeterwellen». Diese nutzen jedoch Frequenzen ab 60 GHz, womit man weder in Gebäude eindringen noch vernünftige Reichweiten erzielen kann. Ausser man stellt Zehntausende Sender mit extrem hoher Sendeleistung auf, was aber völlig unrealistisch ist und für die Betreiber gar nicht rentieren würde.
Ausgerechnet mit solchen Szenarien argumentieren aber die Strahlenschutzverbände und 5G-Gegner – die Tages- und Boulevardpresse greift sie dankbar auf. Dass diese Frequenzen noch gar nicht versteigert und darum gar nicht verfügbar sind, wird verschwiegen. Somit scheitert eine sachliche Diskussion meist an den Fakten, welche die 5G-Gegnerschaft nicht verstehen kann oder einfach nicht zur Kenntnis nehmen will.
Heisses Eisen für Politiker
Unter der Überschrift «Wie Kantone und Gemeinden den 5G-Ausbau blockieren» schrieb die «Neue Zürcher Zeitung» Anfang Februar treffend: «Bis zu zwei Jahre dauert es oft, bis Baugesuche für Mobilfunkanlagen behandelt werden – wenn überhaupt. Das liegt allerdings nicht nur an den Einsprachen. Teilweise verstauben die Gesuche in der Schublade.» Lokale oder nationale Politiker wagen sich – immer mit Blick aufs Wahlvolk – kaum aufs potenzielle Glatteis. Respekt vor Politikern, die es trotzdem tun.
Neue Bestimmungen des Bundes
Am 23. Februar 2021 sind die heiss erwarteten Vorgaben des Bundes – die «Ergänzte Vollzugshilfe» – endlich eingetroffen. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) erliess damit eine Ausführungsbestimmung, wie mit adaptiven Antennen umzugehen ist. Berücksichtigt werden sowohl der Schutz der Bevölkerung vor Strahlung als auch die Interessen der Mobilfunknetznutzenden. Damit wird der Ausbau des 5G-Netzes mit adaptiven Antennen unter Einhaltung der heutigen Grenzwerte für Mobilfunkanlagen endlich möglich. Dabei werden die 5G-Standorte mit einem Korrekturfaktor belegt, der die besonderen Gegebenheiten variabler Sendeleistungen und Strahlformen (sogenannte Beams) berücksichtigt. Letztere sind bei 5G das eigentliche Novum und passen ihre Abstrahlcharakteristik jeweils an den Nutzer und dessen Anforderungen an.
Ohne Verkehr keine Strahlung
Die seit über 20 Jahren geltenden Grenzwerte im Umfang von nur einem Zehntel der in der EU zulässigen Werte werden auch weiterhin vollumfänglich eingehalten. Zudem gilt bei 5G generell: ohne Verkehr keine Strahlung, beispielsweise nachts. Ob 5G gerade deswegen den Schlaf stört, darf auch deshalb – ganz sachlich betrachtet – bezweifelt werden. Denn nachts produzieren Solarpanels ebenso wenig Strom wie 5G-Sender ohne Verkehr strahlen.
Der Autor
Rüdiger Sellin
ist Diplom-Ingenieur (FH) und arbeitet seit 1992 als Fachjournalist (SFJ/MAZ) mit den Schwerpunkten ICT und Elektrotechnik.
Autor(in)
Rüdiger
Sellin
08.11.2021
10.11.2021