News 11.02.2009, 12:00 Uhr

Weg mit den Datenrettungsmärchen

Bei unserem kürzlichen Besuch im ersten Schweizer Reinraum für Datenrettungen räumten die Techniker von Kroll Ontrack mit einigen Vorurteilen auf.
Anfang Februar öffnete Kroll Ontrack in Wallisellen/ZH für einige Stunden die Tür zum ersten Schweizer Reinraum für Datenrettungen. An einem Reinraumarbeitsplatz werden defekte Festplatten in einer möglichst staubarmen Umgebung geöffnet, um ihnen ein letztes Mal Leben einzuhauchen, damit sie die hoffentlich noch zu rettenden Daten hergeben.
Der PCtipp war ebenfalls vor Ort und hatte Gelegenheit, sich mit drei ExpertInnen zu unterhalten. Christine Hammer ist Datenrettungsingenieurin, Martin Hiller der technische Leiter der Kroll-Reinräume in Böblingen/D und Wallisellen, Edmund Hilt ist Managing Director von Kroll Ontrack D/A/CH. Die drei haben mit einigen alten «Märchen» rund um ihre Datenrettertätigkeit tüchtig aufgeräumt.
Märchen 1: «Geheime Daten-Alchemie»
Vor 10 Jahren war es undenkbar, Journalisten oder sonstige Aussenstehende in einen Reinraum zu lassen. Das sorgte dafür, dass Datenrettung beinahe wie eine ominöse Geheimwissenschaft anmutete. Doch ist es inzwischen kein Geheimnis mehr, wie Harddisks von Innen aussehen. Und prinzipiell hat sich an den Datenträgern aller Art in den letzten Jahren auch nicht allzu viel Grundlegendes verändert. Nur die selbst entwickelten und im Labor verwendeten Softwaretools gehören nicht in fremde Hände. Vielleicht also eine Enttäuschung für die Leser: Zaubern können auch die Kroll-Ontrack-Leute nicht.
Märchen 2: «Astronauten-Feeling»
Geben Sie es zu, liebe Leser, Sie haben sich unter dem Begriff «Reinraum» ungefähr so etwas wie auf dem Bild links vorgestellt. Jenes Bild zeigt jedoch keinen Reinraum, sondern einen Reinstraum. Der Unterschied: Ein Reinstraum muss völlig partikelfrei sein, während ein Kubikmeter Luft in einem Reinraum der Klasse 100 immerhin 100 Staubpartikel enthalten darf. Bei der Herstellung von Festplatten und integrierten Schaltungen (z. B. Prozessoren) ist ein Reinstraum unverzichtbar. Beim Retten von Daten genügt jedoch ein Reinraumarbeitsplatz.
Werfen Sie einen Blick in jenen von Kroll Ontrack, Wallisellen (Bildergalerie links). Wie z. B. in den Bildern 2 und 4 erkennbar, befindet sich oberhalb des Arbeitsplatzes in Deckennähe ein Gitter. Durch dieses wird Luft angesaugt und mit einem ausgeklügelten Filtersystem gesäubert. Die partikelarme Luft wird von oben auf den Arbeitsplatz geblasen. Dadurch kann keine staubige Luft von vorne dorthin gelangen.
Nächste Seite: Märchen 3 bis 5 und Tipps für die USB-Platte

Märchen 3 bis 5 und Tipps für die USB-Platte

Märchen 3: «Optisch auslesen»
Viele Anwender sind der Ansicht, die Datenretter würden Festplatten quasi «optisch» auslesen – am besten vielleicht noch mit einem Rasterelektronenmikroskop. Das sei Sciencefiction, meinen die Kroll-Techniker. Natürlich benutzen sie auch Mikroskope. Aber nur zu Diagnosezwecken, um etwa Hardware-Fehler in der Plattensteuerungselektronik zu entdecken oder bestimmte Schadensformen sichtbar zu machen.
Märchen 4: «Grosse Platten sind schwierig zu retten»
Inzwischen sind bereits Festplatten mit Kapazitäten von 2 Terabyte (2000 Gigabyte) im Anmarsch. Die steigende Speicherdichte auf Festplatten – so würde man glauben – mache das Datenretten immer schwieriger.
Das könne man aber laut Datenrettungsexpertin Christine Hammer nicht generell behaupten. Der Erfolg hänge hauptsächlich vom Fabrikat und der Bauweise ab. Manche Produkte mit deutlich kleineren Kapazitäten seien kritischer.
Märchen 5: «Selber mal dran rumschrauben»
Eine zutiefst schlechte Idee, sofern man die Daten gerne zurück hätte! Zum einen ist die Luft sogar in einem eigentlich sauberen, aber gewöhnlichen Zimmer immer noch zu staubig. Und beim unsachgemässen Aufschrauben besteht die Gefahr, durch versehentliches Berühren etwas zu zerstören. Nicht zuletzt darf im Festplattengehäuse nichts verschoben werden. Es geht da um Grössenordnungen, an die wir uns nicht gewöhnt sind: Der Lesekopf einer Festplatte schwebt ungefähr 10 bis 20 Nanometer über der Platte. Im Vergleich dazu: Der Durchmesser eines menschlichen Haars beträgt zwischen 50'000 und 70'000 Nanometer.
Auch gebe es immer wieder Kunden, die im Vorfeld versuchten, die mutmasslich defekte Festplattenelektronik selbst durch jene einer baugleichen Platte auszutauschen. Erfahrungsgemäss sei auch das kontraproduktiv, weil es nicht bei jeder Platte so funktioniere und wegen des oft unsachgemässen Umgangs mit den empfindlichen Teilen. Ausserdem sei nur in rund 10% der Fälle überhaupt die Steuerelektronik die Ursache des Defekts.
Kein Märchen ist allerdings der Zustand, in dem viele der Festplatten und Laptops bei Kroll Ontrack eintreffen. In der Bildergalerie links finden Sie Fotos einiger solcher Hardware-Katastrophen.
Tipps zum Schluss
Externe Harddisks: In den letzten Jahren landeten immer mehr externe Harddisks (z. B. mit USB-Anschluss oder aus NAS-Geräten) bei den Datenrettern. Einer der Hauptgründe, dass solche Geräte oft schon nach kurzer Zeit den Dienst versagen: Externe Festplatten werden häufiger durchgeschüttelt und sind stärkeren Temperaturschwankungen ausgesetzt. Man solle z. B. eine im Rucksack durch den Schneesturm getragene, auf Minustemperaturen abgekühlte Platte nicht sofort an den Rechner anschliessen, sondern warten, bis sie wieder Zimmertemperatur hat.
Wahl der Hardware: Darüber hinaus werde die falsche Hardware für falsche Zwecke verwendet. In den oft unzureichend gekühlten Gehäusen seien lediglich billige Desktop- oder Notebook-Platten verbaut. Die eignen sich weniger für den Dauerbetrieb, sondern sollten nach dem Umkopieren von Daten wieder abgemeldet und ausgesteckt werden. Besser wäre es, man würde sich ein gutes separates Gehäuse zulegen und den Kauf einer robusteren Server-Festplatte ins Auge fassen. Das gilt auch besonders für NAS-Geräte (via Netzwerk erreichbare Festplattenserver), die teils 365 Tage im Jahr nie ausgeschaltet werden.



Kommentare
Avatar
Masche
11.02.2009
Märchen? Nicht gerade Märchen, aber ziemlich ungenaue Informationen werden leider auch in diesem neuesten Artikel verbreitet. Klasse 100 bedeutet keineswegs 100 Partikel pro Kubikmeter sondern pro Kubikfuss, da diese Klassifizierung noch aus dem US Federal Standard 209E stammt. Dieser ist zwar seit dem 29. November 2001 nicht mehr gültig, wird jedoch immer noch zitiert, weil er sich in den Köpfen festgesetzt hat. Heute verwendet man für die Reinraumklassen das ISO System. So entspricht Klasse 100 der Klasse ISO 5. Klasse 100 bzw. ISO 5 bedeutet tatsächlich 3520 Partikel pro Kubikmeter, was aber wiederum auch nicht ganz korrekt ist. Bei der Partikelzahl muss nämlich auch die Partikelgrösse berücksichtigt werden. ISO verwendet dazu eine komplizierte Formel, welche die Partikelgrössenverteilung berücksichtigt (je grösser, desto weniger). Die 3520 Partikel pro Kubikmeter gelten daher nur für Partikel, die einen Durchmesser von mehr als 0.5 Mikrometer haben. Alles was kleiner ist , wird nicht mehr gezählt (Viren beispielsweise sind kleiner!). So gesehen gibt es gar kein "völlig partikelfrei", nicht einmal in einem Reinstraum. Wer sowas behauptet, verbreitet auch Märchen. ;)