Tests 29.10.2014, 09:40 Uhr

Test: Lytro Illum

Zuerst sollten Sie vergessen, was Sie über die Fotografie gelernt haben.
Die Lytro Illum wirkt auf den ersten Blick wie ein überdimensioniertes Objektiv, an dem ein Smartphone hängt – und tatsächlich kommt diese Beschreibung dem Aufbau ziemlich nahe. Doch das ist nicht das einzige, was diese Kamera von ihren  klassischen Geschwistern unterscheidet.
Futuristisch: Lytro Illum
Quelle: Lytro
Die Lytro Illum ist eine Lichtfeldkamera – und zwar die einzige ihrer Art im Consumer-Bereich. Im Gegensatz zu einer konventionellen Kamera zeichnet sie nicht nur die Bildinformationen auf, sondern auch die Richtung, aus der das Licht einfällt.

Eine ganz neue Erfahrung

Mit diesem Verfahren – zusammen mit der passenden Software – eröffnen sich  ganz neue, einmalige Möglichkeiten. An vorderster Stelle steht dabei der Fokus, also die schärfste Stelle im Bild. Er lässt sich im Nachhinein neu platzieren, wenn das Bild am Rechner überarbeitet wird. Mit einem Doppelklick auf die gewünschte Bildstelle verlagert sich die Schärfe wie von Geisterhand:
Ein Klick, und die Schärfe liegt woanders
Quelle: Lytro
Diesen Eindruck muss man zuerst auf sich wirken lassen. Am besten besuchen Sie die Galerie des Herstellers unter der Adresse pictures.lytro.com. Wählen Sie ein Bild aus und doppelklicken Sie auf die Stelle, die im Fokus liegen soll. Mehr noch: Mit gedrückter Maustaste kann sogar die Perspektive ein wenig verändert werden – gerade genug, dass Fotos auch als anaglyphe oder farbige 3D-Bilder gespeichert werden können.
3D-Bilder sind ein Nebenprodukt

Der Sensor

Es geht unkonventionell weiter: Der Sensor im Format 10.82×7.52 mm löst die Umgebung mit 40 «Megaray» auf, was wohl kaum zu Vergleichszwecken geeignet ist. Wird ein Bild anschliessend am Rechner bearbeitet und exportiert, bleibt netto eine Auflösung von 2450×1634 übrig, was ziemlich genau 4 Mpx entspricht.

Das Objektiv

Und auch beim fest verbauten Objektiv ist nichts so, wie es sein sollte. Zum einen bietet es einen enormen Brennweitenbereich von 30 mm bis 250 mm, was an sich schon eine kleine Sensation ist.
Das Objektiv kennt nur die «Blende» ƒ2.0
Quelle: IDG
Ausserdem ist da die enorme Lichtstärke von ƒ2.0. Mehr noch: Es ist die einzige Blendenöffnung, die überhaupt zur Auswahl steht, da das Objektiv die Lichtmenge nicht mit Blendenlamellen steuert. Und zu guter Letzt beträgt die Naheinstellgrenze exakt 0 mm – das Objektiv kann also mit seinem Motiv auf Tuchfühlung gehen:
Der Fotograf wird aufgefordert, den Begriff «Naheinstellgrenze» aus seinem Wortschatz zu streichen
Quelle: IDG
Hier das Ergebnis:
Makro total
Quelle: IDG
Der vordere Ring steuert das Zoom, der hintere den Fokus. In beiden Fällen erfolgt die Umsetzung nicht durch einen Schneckengang, sondern elektronisch, was minimale Verzögerungen zur Folge hat. Eine angenehme Überraschung ist hingegen das Gewicht, denn trotz ihrer riesigen Optik wiegt die Kamera nur 940 Gramm.
Mehr Objektiv als Kamera
Quelle: IDG

Das Display

Und zu guter Letzt ist da noch das Display auf der Rückseite. Die mickrige Auflösung von 800×480 Pixel müsste heute als lachhaft bezeichnet werden, dafür gefällt die Grösse. Ausserdem lässt es sich sowohl um 90 Grad nach oben und 10 Grad nach hinten kippen, sodass aussergewöhnliche Perspektiven auch ohne Verrenkungen möglich sind.
Das Display lässt sich kippen
Quelle: IDG
Die Auflösung tritt in den Hintergrund, wenn mit der Illum gearbeitet wird. Die Touch-Gesten für die Steuerung am Display werden erfreulich präzise umgesetzt – nicht im Vergleich zu modernen Smartphones, aber immerhin gegenüber klassischen Kameras. Auch die Steuerung erinnert an eine gelungene Smartphone. Über das Display werden das Histrogramm eingeblendet, Automatiken geändert und dergleichen mehr.
Das Display ist das wichtigste Steuerelement
Quelle: IDG
Ein weiterer Vorteil der Display-orientierten Steuerung ist die enorme Anpassungsfähigkeit. Jede Funktion kann ein- oder ausgeblendet und an eine andere Stelle verschoben werden.
Jede Funktion lässt sich verschieben
Quelle: IDG
Gleichzeitig können die wenigen Tasten und Einstellräder mit anderen Funktionen belegt werden. Kurz, die Illum gehört zu den «persönlichsten Kameras», die man sich vorstellen kann.
Auch die wenigen Knöpfe lassen sich frei belegen
Quelle: IDG
Allerdings zeigt das Display massive Schwächen im Sonnenlicht, weil es kaum mehr abzulesen ist. Ein Sucher ist ebenfalls nicht vorhanden, so dass die Einsatzfähigkeit der Kamera mit den Lichtbedingungen steht und fällt.
Soviel zu Technik. Die Praxis ist jedoch nicht weniger spannend.
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Die Illum in der Praxis

Die Illum in der Praxis

Vor der Motivjagd muss zuerst eine neue Denkweise verinnerlicht werden, und das geht bereits bei der Belichtung los. Die Lytro arbeitet wahlweise mit Programmautomatik (P), manuell (M), mit Zeitvorwahl (A) oder mit ISO-Vorwahl (I). Und das kommt so:
Da die Blendenöffnung ƒ2.0 eine unverrückbare Grösse darstellt und später über die Software geändert wird, kann die Belichtung nur über die Verschlusszeit und den ISO-Wert gesteuert werden – die Blende fällt aus der Gleichung. Die kürzeste Verschlusszeit beträgt eine 1/4000stel Sekunde, die Empfindlichkeit liegt zwischen 80 und 3200 ISO. Um den Spielraum zu erweitern, ist im Lieferumfang ein neutraler Graufilter enthalten, der vier Belichtungsstufen schluckt. Geblitzt wird mit einer 1/250stel Sekunde.

Die «Fokussierung»

Die Lytro Illum bietet einen Autofokus – was unweigerlich zur Frage führt, warum mit dieser Kamera überhaupt noch fokussiert werden muss, wenn die Schärfe im Nachhinein festgelegt werden kann. Die Antwort ist einfach: Auch die Illum kann die physikalischen und optischen Gesetze nicht vollständig aushebeln.
Die Illum fokussiert bei der Aufnahme auf eine bestimmte Stelle, so wie jede andere Knipse. Anschliessend kann die Schärfe innerhalb einer gewissen Spannbreite neu gesetzt werden – aber nicht mehr. Dieser Spielraum wird durch dieselben Parameter definiert, wie bei der klassischen Fotografie: Er ist grösser bei kurzen Brennweiten und grossen Distanzen. Er verringert sich, wenn die Brennweite länger und die Abstände zum Motiv kürzer werden. Auch der Abstand zwischen Kamera–Motiv–Hintergrund spielt eine Rolle. Es beruhigt ungemein, dass einige Gesetze der Fotografie auch bei dieser Kamera ihre Gültigkeit behalten.
Das Setup
Quelle: IDG
Wenn auf eine bestimmte Stelle fokussiert wird, wird der Spielraum auf der Distanzanzeige am rechten Rand visualisiert: Der blaue Balken zeigt den Bereich vor der optimalen Schärfe, der orange Balken denjenigen dahinter.
Anzeige des Schärfenbereichs in Blau und Orange
Quelle: IDG
Mit einem Druck auf die Taste neben dem Auslöser wird das Display durch blaue und orange Pixel ergänzt, die den möglichen Schärfebereich exakt anzeigen. So bleibt gewährleistet, dass es später am Rechner nicht zu unangenehmen Überraschungen kommt.
Die blauen und orangen Pixel zeigen, wie weit die Schärfe reicht
Quelle: IDG
Ironischerweise gehört ausgerechnet der Autofokus zu den schwächsten Gliedern in der Kette. Die Positionierung gestaltet sich manchmal mühsam, wenn nicht auf die angepeilte Stelle fokussiert wird. Die Schärfe lässt sich zwar auch über ein Tippen auf das Display einstellen – aber das wird bei einer so grossen Kamera schnell anstrengend. Ausserdem kommt es immer wieder vor, dass der Fokus auch bei unkritischen Motiven erst im zweiten oder dritten Anlauf gefunden wird.
Diese Schwächen sorgen dafür, dass die Illum im Studio besser aufgehoben ist, als in der freien Natur – und zwar am besten auf einem Stativ, was auch die Bedienung über das Touch-Display deutlich vereinfacht. Angenehmes Detail am Rande: Der Kartenschacht befindet sich auf der Seite, sodass die Karte problemlos gewechselt werden kann, während die Kamera auf dem Stativ steht.
Das Kartenfach befindet sich freundlicherweise an der Seite
Quelle: IDG
Wenn man sich dieser Schwächen bewusst ist, fotografiert es sich mit der Illum angenehm unbeschwert, doch das ist nur der halbe Spass. Denn erst am Rechner reihen sich die Aha-Erlebnisse aneinander.
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Nachbearbeitung und Bildqualität

Nachbearbeitung

Die Bilder aus der Lytro müssen zuerst durch die kostenlose Desktop-Software für Mac oder Windows aufbereitet werden, da diese Raw-Dateien von keiner anderen Software interpretiert werden können. Eine Option, die Bilder gleichzeitig im JPEG-Format zu sichern, fehlt.
Die Kamera ist mit einer USB-3.0-Schnittstelle ausgerüstet, und das hat seinen guten Grund: Jede Aufnahme wiegt ungefähr 55 MB, sodass die Transferzeiten nach einem ausführlichen Shooting nicht zu unterschätzen sind. Noch mehr Zeit benötigt jedoch die erste Aufarbeitung der Bilder durch die Software: Ein schneller iMac mit i7-Prozessor  benötigte unter Volllast ganze 5 Minuten, um 15 Bilder für die erste Verwendung aufzubereiten – und das, obwohl diese vorgängig auf die Festplatte kopiert wurden. Immerhin können die Fotos während dieser Zeit bereits betrachtet, sortiert und bewertet werden.
Die Software wird für OS X und Windows angeboten
Quelle: IDG
Anschliessend wird der Spielplatz eröffnet. Die Lytro-Software macht einen sehr aufgeräumten Eindruck und bietet alle wichtigen Regler für die Belichtung, den Weissabgleich, den Kontrast usw. Das ist auch gut so, denn ein Ausweichen auf Photoshop & Co. gibt es erst, nachdem die Fotos im JPEG- oder TIF Format exportiert wurden.
Der interessanteste Aspekt betrifft die Fokussierung: Die Blende kann stufenlos zwischen ƒ1.0 und ƒ16 justiert werden. Ein Doppelklick auf eine Bildstelle definiert dabei den Punkt der maximalen Schärfe.
Das Spiel mit einer geringen Schärfentiefe übt natürlich den grössten Reiz aus, doch leider können die Ergebnisse bei offener «Blende» am wenigsten überzeugen. Beim oberen Bild wurde mit der Lytro auf das Gesicht fokussiert und nachträglich am Rechner Blende ƒ1.2 gewählt. Das untere Bild wurde bei gleicher Brennweite und Blende ƒ1.2 mit einem Fujinon-Objektiv aufgenommen.
Bei Blende ƒ1.2 gleicht das Lytro-Bild (oben) einem Gemetzel
Quelle: IDG
Die Lytro kann nicht einmal ansatzweise mithalten und zeigt unschöne, nicht zu übersehende Artefakte an den Gesichtskanten. Dazu kommen Abbildungsfehler in der Ecke, die dem Streulicht geschuldet sind. Die mitgelieferte Sonnenblende ist also keine Option, sondern ein Muss.
Sehr unschöne Artefakte
Bei Blende 4 verbessert sich die Situation:
Bei Blende ƒ4.0 entspannt sich die Situation ein wenig
Quelle: IDG
Kurz, was die Qualität der Fotos anbelangt, kann die Illum mit keiner Kompaktkamera mithalten. Die Fotos wirken durchs Band ein wenig unscharf, bei offener Blende kommt es ausserdem zu Artefakten.

Tricksereien

Die Lytro-Anwendung kann nicht nur massgeschneiderte JPEG- oder TIF-Dateien exportieren, sondern hat auch noch andere Tricks auf Lager:
3D-Bilder. Da sich die Perspektive ein wenig verschieben lässt, werden auf Knopfdruck anaglyphe oder farbige 3D-Bilder möglich. Doch das hatten wir schon.
Videos. Spannender sind die Videos, die sich in der maximalen Auflösung von 1080p exportieren lassen. Allein für diese Kategorie hält die Software eine ganze Reihe an Einstellungen bereit. So kann die Schärfe gleichmässig oder sprunghaft über ein Objekt geführt werden. Auch die gleichzeitige Animation der Perspektive ist möglich, was besonders aufwendig wirkende Streifen ermöglicht. Der Export-Dialog lässt erahnen, was alles möglich ist:
Im Video gleitet die Schärfe der das Motiv
Quelle: IDG
iPad-App. Die hauseigene App baut eine Verbindung mit dem Wifi-Modul der Kamera auf. Anschliessend können Bild übertragen, die Fokussierung verändert und die Resultate in Umlauf gebracht werden. Das ist alles schön und gut – aber eine Möglichkeit zur Fernsteuerung wäre uns lieber gewesen.
Bei der iPad-App gibt es noch viel Spielraum für weitere Möglichkeiten
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Zielgruppe, Kaufempfehlung und Fazit

Zielgruppe

Bei der Lytro Illum steht zuerst einmal fest, für wen diese Kamera nicht gemacht ist, nämlich für den durchschnittlichen Hobbyfotografen. Dazu ist die Bedienung zu krakelig, die Kamera zu sperrig und die Qualität der 4-Mpx-Fotos zu gering.
Für jede andere Kamera wäre das ein vernichtendes Urteil. Doch das ist nur die halbe Geschichte. Die Illum eignet sich perfekt für kreative Umgebungen wie zum Beispiel Werbeagenturen. Dort lassen sich Produkte vorab fotografieren und die Schärfe punktgenau festlegen. Anschliessend kann man mit sehr genauen Vorstellungen den Fotografen einweihen. Die Qualität der Bilder reicht gerade noch für Maquetten (Neusprech: Mockups). Und wer eine technik-affine Kundschaft bedient, kann mit dieser vor dem Rechner an den Fotos herumspielen – das wird seine Wirkung nicht verfehlen, versprochen!

Kaufempfehlung

Die Illum weist einige Schwächen auf, aber sie hat einen gewaltigen Vorteil auf ihrer Seite: Sie muss sich mit keiner anderen Kamera vergleichen lassen. Entweder man will diese einmaligen Möglichkeiten, oder man sollte einen grossen Bogen um diesen Exoten machen. Wer jedoch die dynamischen Videos, 3D-Bilder oder die absolute Fokus-Kontrolle indirekt zu Geld machen kann, der wird hier zu einem moderaten Preis gut bedient.
Fazit: Die Illum Lytro ist auf ihre Weise einmalig und erlaubt ganz neue Möglichkeiten. Diese muss man jedoch ausdrücklich wollen – ansonsten ist jede andere Kamera auf diesem Planeten die bessere Wahl.
Das Testgerät wurde uns freundlicherweise von Digitec zur Verfügung gestellt.
Hier geht es direkt zur Produktseite.

Testergebnis

Variable Schärfe, vielseitige Export-Funktionen inkl. Video, enormer Brennweitenbereich, Scharfeinstellgrenze 0 cm.
Schärfe, Autofokus z.T. eigensinnig, Auflösung, Anleitung nur in Englisch.

Details:  Netto 4 Mpx, Zoom 30-250 mm (auf KB umgerechnet), Lichtstärke durchgehend ƒ2.0, Software für Mac und Windows.

Preis:  1695 Franken

Infos: 
https://www.digitec.ch/de/s1/product/lytro-illum-lichtfeldkamera-5mp-schwarz-fotokamera-2485635

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