Aus Gründen
21.11.2022, 08:53 Uhr
Das iPhone als Kamera-Ersatz
Die Technik des iPhones überflügelt die klassischen Kameras und befreit uns von den Ballaststoffen. Wenn Sie über einen Wechsel nachdenken, finden Sie hier ein wenig Inspiration.
Schleppen kommt immer mehr aus der Mode
(Quelle: Photo by Maria on Unsplash)
Fotografieren gilt zu Recht als wunderschönes Hobby und sinnstiftend noch dazu. Kameras herumzutragen eher weniger. Trotzdem baumeln auch heute noch kiloschwere Konstruktionen aus Metall und Glas an den Schultern jener Hobby-Fotografen, die mit ihrer Tätigkeit nicht einmal Geld verdienen. Stattdessen möchten sie «nur» die schönsten Erlebnisse in der besten Qualität bewahren und investieren in dieses Ziel haufenweise Geld, Muskelkraft und Schweiss.
Das war bei mir über viele Jahre hinweg nicht anders. Um es vorwegzunehmen: Heute fotografiere ich nur noch mit dem iPhone. Und ja, eine konventionelle Kamera bietet natürlich die bessere technische Qualität. Das iPhone befehligt auch keine Studioblitze und liefert bescheidene 12 Mpx Auflösung, vom iPhone 14 Pro einmal abgesehen. Formatfüllende Bilder von Löwen gelingen also nur unter Einsatz von Leib und Leben, weil man sich dazu direkt vor die Katze setzen muss – mit ungewissem Ausgang.
Pixel oder Seelenfrieden
Die Abkehr von der «richtigen» Kamera verlangt nach einem mentalen Wandel – besonders, wenn bis anhin nur das Beste gut genug war. Abstriche bei der Qualität müssen nicht nur erduldet, sondern akzeptiert werden. Dasselbe gilt für die Erkenntnis, dass nicht mehr jedes Motiv fotografiert werden kann. Aber das ist vielleicht gar nicht so schlimm; bei genauer Betrachtung entpuppte sich mein Makro als Fehlinvestition, weil ich doch lieber die Familie fotografiere, statt den haarigen Hintern einer Fliege. Kurz: Der Wechsel zum iPhone kommt wohl für die meisten Fotografen einer Zäsur gleich, die jedoch sehr erfrischend sein kann.
Wenn Sie diesen Weg einschlagen, folgt die erste Belohnung auf der Stelle: Ab sofort haben Sie Ihre komplette Fotoausrüstung immer dabei. Das iPhone, der einstige Notnagel, wird zum federleichten Kamerarucksack mit allem, was Sie brauchen.
Jetzt aber Technik
Smartphones sind untrennbar mit der «Computational Photography» verbunden, der computergestützten Fotografie: Immer bessere Prozessoren und Algorithmen sorgen für eine Bildqualität, die aufgrund der physikalischen Gesetze und der winzigen Kamerasensoren eigentlich gar nicht möglich sind. Stattdessen wird im iPhone jedes Foto unmittelbar nach der Aufnahme durch Apples «Image Pipeline» gejagt. Hier wird das Motiv in mehreren Schritten segmentiert, analysiert und optimiert:
Dabei wird vielleicht der Himmel ein wenig abgedunkelt und die Wolken durch erhöhte Kontraste herausgeschält; gleichzeitig wird das Kleid des Modells auf eine andere Weise und mit einer anderen Intensität geschärft als das Gesicht. Die Tonwerte werden optimiert und so nebenbei wird das Rauschen aus dem Bild gerechnet, weil der Abend dämmerte. Und so weiter.
Das iPhone 13 Pro in Aktion: auch extreme Kontraste werden gebändigt
Quelle: Apple Inc.
Die Signalverarbeitung des iPhones ist ein Bestandteil der CPU und wendet diese und andere Optimierungen bei jedem Bild automatisch an. Bei einer klassischen Kamera bleibt nur, jedes einzelne Foto in einer Software wie Capture One oder Lightroom mit viel Handarbeit zu optimieren. Aber das ist nur ein Vorgeschmack auf das, was gleich kommt.
Serienbilder
Junior steht auf dem Sprungbrett, zu allem bereit. Kurz vor der Action wird die «Lauter»-Taste des iPhones gedrückt, das sofort damit beginnt, zehn Bilder pro Sekunde aufzunehmen. Junior zögert, aber das ist kein Problem: Das iPhone schaufelt die Bilder unverdrossen in sich hinein, solange der Speicher reicht. Und das erhöht die Erfolgschancen auf den perfekten Moment enorm.
Jede konventionelle Kamera nimmt ebenfalls Serien auf – aber nur für wenige Sekunden. Sobald der Puffer voll ist und die Bilder auf die Karte geschrieben werden müssen, kommt die Serienaufnahme ins Stottern oder wird sogar komplett unterbrochen, bis die Bilder gesichert sind.
Tipp: Falls Ihr iPhone beim Gedrückthalten der Lauter-Taste keine Bildserie, sondern ein Video aufzeichnet, aktivieren Sie in den Kamera-Einstellungen die Option «‹Lauter› für Serie verwenden».
GPS-Informationen
Konventionelle Kameras zeichnen ohne externe Hilfe keine Ortsdaten auf, weil bei fast allen Modellen ein GPS-Modul fehlt. Dabei sind diese Informationen spannend, weil nach Jahren fast auf den Meter genau nachgeschlagen werden kann, wo eine Aufnahme gemacht wurde. Um die Karte in der Fotos-App einzublenden, rufen Sie ein Foto auf und wischen das Bild von unten nach oben.
Tipp: Dank der GPS- und Datumsinformationen lässt sich auch nach Jahren das Wetter und die Temperatur abrufen, die zum Zeitpunkt der Aufnahme geherrscht haben. Das erledigt die kostenlose App Instaweather. Für nur 1 Franken kaufen Sie sich von der penetranten Werbung frei.
Kein Stativ – kein Problem
Die «Computational Photography» überwindet aber auch die physikalischen Grenzen, die sich durch eine lange Verschlusszeit ergeben. Deshalb werden freihändige Aufnahmen möglich, vor denen selbst die besten Kameras kapitulieren, wenn sie nicht auf einem Stativ stehen.
Langzeitbelichtungen
Welcher Fotograf hat sich nicht schon daran versucht: Mit der Kamera auf dem Stativ wird ein fliessendes Gewässer für ein paar Sekunden belichtet, damit es wirkt, als wäre es just einer Feenquelle entsprungen. Mit dem iPhone verwenden Sie anstelle eines Stativs die Funktion «Live-Foto», die Sie über das kreisförmige Symbol ganz rechts oben in der Kamera-App aktivieren. Halten Sie die Kamera drei Sekunden lang ruhig, während Sie die Szene ablichten. Nach der Aufnahme öffnen Sie das Bild in der Fotos-App und wählen in der linken oberen Ecke aus dem Einblendmenü den Effekt «Langzeitbelichtung».
Tipp: Die Langzeitbelichtung funktioniert mit nahezu allem, was auch bei einer konventionellen Kamera funktionieren würde, also zum Beispiel auch mit Karussells.
Nachtaufnahmen
Wenn das Licht einen bestimmten Wert unterschreitet, schaltet das iPhone automatisch in den Nachtmodus – zu erkennen am gelben Symbol in der linken oberen Ecke und der Information «3 Sek.». Drücken Sie den Auslöser und halten Sie das iPhone drei Sekunden lang so ruhig wie möglich; anschliessend werden die besten Bildinformationen extrahiert, neu zusammengesetzt und die Szene entrauscht.
Das funktioniert bei Objekten zwar besser als bei Personen, aber mit einer konventionellen Kamera ohne Stativ hätten Sie überhaupt kein Foto als Erinnerung.
Tipp: Für ein noch besseres Ergebnis stellen Sie das iPhone auf eine feste Unterlage. Es erkennt mithilfe des Gyrosensors, dass Sie es nicht mehr in der Hand halten, und verlängert die Belichtungszeit auf 5 Sekunden. Doch da geht noch mehr: Tippen Sie auf die gelbe Zeitanzeige, um die Belichtungszeit am unteren Rand auf bis zu 30 Sekunden zu verlängern.
Makrofotos
Und schliesslich sind da noch die Makrofotos – oder in diesem Fall: die Sehr-nah-ran-Fotos, denn einem klassischen Makroobjektiv kann das iPhone nicht das Wasser reichen. Dessen ungeachtet sind Aufnahmen in einem Abbildungsmassstab möglich, die mit einer klassischen Kamera ohne Stativ entweder nicht oder nur mit sehr viel Glück halbwegs scharf werden. Auch hier kompensiert die Computational Photography lange Verschlusszeiten und koffeingetränkte Nerven.
Tipp: Makroaufnahmen sind eine Spezialität des iPhone 13 Pro und iPhone 14 Pro. Sie zeigen eindrucksvoll, wie sich die Möglichkeiten mit jeder Serie und den Pro-Modelle entwickelt haben. Wenn Sie den Weg der iPhone-Fotografie konsequent beschreiten möchten, sollten Sie deshalb zum jeweils grössten Modell der aktuellen Serie greifen.
Der perfekte Workflow
Es kann Spass machen – aber oft ist es einfach nur ein Krampf, den man hinter sich bringen muss: die Aussortierung und Optimierung der Bilder, bis sie endlich vorzeigbar sind. Je höher die Ansprüche, umso fortgeschrittener die Software. Bei einer klassischen Kamera wird die Speicherkarte in den PC eingelegt, die Fotos in die Software importiert, optimiert und schlussendlich wieder exportiert. Zu guter Letzt wandern die fertigen Bilder in die Fotos-App, zu Google Fotos oder eine andere Zeigesoftware. Die Originale werden hingegen doppelt gesichert; man weiss ja nie.
Das bleibt Ihnen in Zukunft erspart. Alle Bilder aus dem iPhone werden zentral in der Fotos-App aufbewahrt und über iCloud mit allen Macs, iPhones und iPads synchronisiert, die unter derselben Apple-ID segeln. Dieser Workflow fühlt sich so herrlich komfortabel und befreiend dann, dass es allein deshalb fast keinen Weg zurück gibt.
Nehmen Sie mit dem iPhone in den Ferien tausend Bilder auf, sortieren Sie diese irgendwann beim Pendeln auf dem iPad und verpassen Sie ihnen am Mac den letzten Schliff: Der ganze Prozess gleitet vor sich hin und sorgt dafür, dass kein Bild mehr doppelt gespeichert oder als Original separat aufbewahrt werden muss. Die Fotos lassen sich auch mit einem Windows-PC synchronisieren – dann aber als Ordnerstruktur, ohne die Fotos-Anwendung.
Tipp: In der Fotos-App werden alle Bilder im Original aufbewahrt. Ganz egal, ob sie innerhalb von Fotos verändert oder in einer Drittsoftware bearbeitet wurden: Der ursprüngliche Zustand bleibt unangetastet und lässt sich jederzeit wiederherstellen. Anderen Programmen und Apps ist es vom System her gar nicht erlaubt, die Originale zu überschreiben und damit dauerhafte Änderungen vorzunehmen.
Gut geteilt
Der zweite, mindestens genauso wichtige Aspekt des Workflows ist das Teilen, denn dazu sind Bilder schliesslich da. Aus der zentralen Fotos-Mediathek werden sie auf unzählige Arten in Umlauf gebracht: etwa per E-Mail, Messenger und via AirPlay – oder sie werden direkt in andere Projekte wie Keynote-Präsentationen eingebunden. Im Vergleich zu dieser Leichtigkeit wirken die Fotos aus SD-Karten wie in Harz gegossen.
Die ideale Kamera-App
Verlieren wir zum Schluss ein paar Worte über die beste professionelle Kamera-App, die alles kann, eine komplett manuelle Steuerung erlaubt und die mit den raffiniertesten Bildalgorithmen arbeitet. Sie entwickelt die Fotos wie ein klassisches Labor, erstellt Videos wie eine TV-Kamera, macht Tante Frieda vierzig Jahre jünger und ist auch sonst in jeder Hinsicht unerreicht.
Das Problem: Diese und ähnliche Heilsversprechen passen auf Dutzende Kamera-Apps – und sie alle überschlagen sich mit vermeintlichen Alleinstellungsmerkmalen. Im Lauf der Jahre habe ich vermutlich den Preis eines Mittelklasse-Teles in Kamera-Apps investiert, nur um am Ende zu diesem einen Schluss zu kommen: Die beste Kamera-App ist jene, die Apple mitliefert. Und das hat gute Gründe.
Schnappschüsse
Bei Schnappschüssen kommt es auf die Sekunde an. Nur die Kamera-App von Apple lässt sich direkt im Sperrbildschirm über ihr Symbol starten – oder einfach mit einem Wischen von rechts nach links. Die Oberfläche ist ausserdem sehr einfach strukturiert, sodass keine Einstellungen den Fotografen ausbremsen.
Tipp: Machen Sie es sich in besonders dynamischen Situationen zur Gewohnheit, einfach Serienbilder zu schiessen und den Auslöser so lange gedrückt zu halten, bis alles vorbei ist. Danach lassen Sie das iPhone aus einem Berg von zweihundert Bildern die besten auswählen.
Funktionsumfang
Apples Kamera bietet einen enormen Funktionsumfang, doch dieser offenbart sich zum Glück nicht auf den ersten Blick. Stattdessen sind viele Regler ausgeblendet oder Funktionen so konzipiert, dass sie beim Fotografieren nicht im Weg stehen. Allein durch ein Tippen auf den Pfeil am oberen Rand werden neun weitere Symbole eingeblendet, etwa für den Selbstauslöser:
Tipp: Sie werden schnell herausfinden, welche Einstellungen am besten zu Ihrer persönlichen Arbeitsweise passen. Damit diese Anpassungen nicht bei jedem Start der Kamera zurückgesetzt werden, öffnen Sie in den Kamera-Einstellungen den Bereich «Einstellungen beibehalten». Hier wählen Sie aus, welche Eigenschaften zwischen den Shootings erhalten werden sollen.
Fremde Versprechen
Doch das wichtigste Argument für die Apple-Kamera ist die Tatsache, dass andere Apps auch nur mit Wasser kochen und oftmals Funktionen anpreisen, die keinen oder nur einen zweifelhaften Mehrwert bringen. Hier einige Klassiker.
Filter. Einige Apps bieten Filter, die bereits bei der Aufnahme aktiv sind. Doch warum sollte man eine Aufnahme dauerhaft verändern, wenn im App Store hunderte Apps diese Effekte nachreichen, ohne das Original zu schädigen?
HDR-Funktion. Eine vollmundig angepriesene HDR-Funktion klingt nach grossarten Resultaten. Allerdings sorgt die Image-Pipeline des iPhones bei jedem einzelnen Foto dafür, dass keine Schatten absaufen und keine Lichter ausgefressen werden. Für eine weitere HDR-Funktion gibt es nur wenige gute Gründe – es sei denn, man steht auf den übertriebenen HDR-Look.
Zebra-Muster. Einige Apps markieren über- und unterbelichtete Stellen mit einem Zebramuster, wie es heute die besseren Videokameras im Sucher einblenden. Doch auch hier sorgt die HDR-Funktion der Kamera dafür, dass es solche Stellen gar nicht gibt, solange Sie nicht versuchen, Sonnenflecken zu fotografieren oder die Belichtung manuell zu justieren.
Belichtung und Fokus getrennt. Auch das wird gerne hervorgehoben: Die Belichtung und der Fokus lassen sich getrennt einstellen. Doch das schafft auch Apples Kamera-App, einfach ohne Extra-Regler: Drücken Sie über dem anvisierten Teil so lange auf das Display, bis am oberen Rand der Hinweis «AE/AF-Sperre» eingeblendet wird. Jetzt ist der Fokus für diese Aufnahme fixiert. Wischen Sie nun auf dem Display nach oben und unten, um die Belichtung separat anzupassen.
Manuelle Belichtung. Auch das klingt professionell, ist aber wenig sinnvoll, denn genaugenommen kann damit nur die Helligkeit gesteuert werden – entweder durch die Verschlusszeit, die Empfindlichkeit oder durch die Software. Bis und mit iPhone 14 hatte jedoch kein einziges iPhone eine echte, variable Blendenöffnung, die sich gezielt einsetzen lässt. Wenn Ihnen der Sinn nach manueller Fotografie steht, ist eine klassische Kamera tatsächlich die bessere Wahl.
Algorithmen. Gerne werden besonders ausgebuffte Algorithmen angepriesen, etwa für Nachtaufnahmen, Makros und mehr. Allerdings ist es fraglich, ob diese besser sind als jene von Apple. Das werden wir allerdings nie herausfinden, weil diese Apps gar nicht früh genug auf die Bilddaten zugreifen können. Jede Aufnahme durchläuft zuerst die Image-Pipeline, bevor eine Kamera-App weitermachen darf – und dann ist es bereits zu spät, um eine grundlegende Änderung am Material vorzunehmen.
Fazit
Der Wechsel von der klassischen Kamera zum iPhone ist längst nicht für alle Fotografen die beste Wahl. Auf der anderen Seite bietet das iPhone heute eine so hohe Qualität, dass sich immer häufiger die Sinnfrage stellt. Wenn Sie der Wunsch beschleicht, fotografischen Ballast abzuwerfen, sollten Sie dieser Form der Fotografie eine Chance geben. Und wenn auch noch die richtigen Schalter im Gehirn umgelegt werden, entsteht eine völlig neue, unbelastete Beziehung zur Fotografie.
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