Kommentar
25.06.2010, 07:17 Uhr
Ich habs ja selbst gesehen!
Auf unsere eigene Wahrnehmung verlassen wir uns. Das kann krasse Folgen haben, wie ein Experiment zeigt. Insbesondere in der virtuellen Welt.
Ein sehr spannendes Experiment war kürzlich in der gleichnamigen Rubrik im NZZ Folio beschrieben. Versuchspersonen müssen zwischen zwei abgebildeten Frauen die für sie attraktivere wählen. Mit einem Zaubertrick werden dann die beiden Bilder vertauscht. Darauf wird das Bild nochmal gezeigt, und die Versuchsperson müssen ihre Wahl begründen.
Das Erstaunliche: Die meisten Menschen merken nicht, dass sie durch den heimlichen Tausch nun genau jenes Bild in Händen halten, dass sie gerade vorhin nicht gewählt haben. Im Gegenteil, sie argumentieren für ihre Wahl genau gleich wie die Personen der Kontrollgruppe, die das richtige Bild vor sich hat.
Und wenn man sie dann noch fragt, ob sie einen Tausch bemerkt hätten, meinen die meisten: ja, das hätten sie ganz gewiss bemerkt.
Dass sich das menschliche Gehirn flexibel neuen Wahrnehmungen anpasst, ist ja nichts Schlechtes. Denn normalerweise bleibt ein einmal wahrgenommenes Objekt immer ein- und dasselbe, aber die Wahrnehmung schwankt. Oft hat man etwas auf den ersten Blick nicht vollständig richtig erfasst und schaut ein zweites Mal hin. Am Gegenstand selber ändert das nichts. Ausser in diesem Fall von Schwindel.
Aber was bedeutet diese Erkenntnis für die virtuelle Welt? Zumindest das Potenzial für «Zaubertricks» ist viel grösser. Wer am PC manipulieren will, der hat leichtes Spiel. Bestimmt kennen Sie diesen Scherz: ein Bildschirmfoto vom Desktop des Kollegen wird als Hintergrundbild installiert, und dann werden alle Dateien und Verknüpfungen auf dem Desktop in einem Ordner verstaut. Gross ist die Schadenfreude, wenn der liebe Kollege danach ständig auf die Symbole klickt und einfach nichts passiert. Dabei ist das noch eine sehr harmlose Form von Manipulation.
Heute nehmen wir die Welt vorwiegend über Medien wahr, nicht über die direkte Sinneserfahrung. Unser Weltbild gründet auf Dingen, die wir gelesen, gehört, im Fernsehen gesehen, im Internet gegoogelt haben. Das alleine birgt schon ein enormes Täuschungspotenzial. Das kann auch Selbsttäuschung sein: viele Menschen suchen im Internet nach Informationen, die ihre Meinung bestätigen. Zusätzlich problematisch wird es, wenn diese Medien sich dynamisch ändern. Eine Zeitung im Internet kann einen Artikel nachträglich umschreiben. Nach dem Experiment zu schliessen, würde das ein grosser Teil der Leser nicht merken, selbst wenn massive Änderungen vorgenommen werden. Das ist bei einer gedruckten Zeitung so nicht möglich.
Aber ich glaube nicht ernsthaft, dass das Internet dazu angetan ist, Leute zu manipulieren. Im Gegenteil. Sein demokratisches Wesen wirkt dem sogar entgegen. Wo viele individuelle Stimmen sind, die in ständigem Meinungs- und Wissensaustausch stehen, da werden nicht haltbare Ansichten schnell randständig, selbst wenn sie auf «wichtigen» Sites (zum Beispiel bei der Regierung eines totalitären Regimes) veröffentlicht werden. Die Kehrseite: Weltverschwörungstheoretiker haben derzeit Hochkonjunktur. Das ist aber bestimmt das kleinere Übel als Zustände wie in Nordkorea.
Autor(in)
David
Lee
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