Tipps & Tricks
17.01.2018, 07:00 Uhr
Meltdown und Spectre: Lesen ohne zu lesen
Was Meltdown und Spectre mit einem Schachspiel zu tun haben und worum es bei den Sicherheitslücken aus technischer Sicht geht. Ein Informatikprofessor erklärt.
Die Sicherheitslücken Meltdown und Spectre sind zurzeit in aller Munde und werden uns noch lange beschäftigen. Denn die Schwachstellen sind tief verwurzelt in der Art, wie man Prozessoren heute schnell macht. Sie erlauben es, Daten zu lesen, ohne dass ein Kommando zum Lesen dieser Daten ausgeführt werden muss, mit der Folge, dass die üblichen Überprüfungen, ob dieser Lesebefehl auch berechtigt ist, ins Nichts laufen: ein riesiges Sicherheitsproblem! Deshalb sollten nicht nur eingefleischte Informatiker die Hintergründe verstehen.
Mein Versuch einer Erklärung für alle beginnt mit einem Schachspiel zwischen blutigen Anfängern; und endet mit einem Ausblick, was auf die IT-Industrie und uns alle zukommt.
1. Hintergrund und Überblick
Schach …
Zwei Anfänger, Melt Down und Pro Zessor, spielen gegeneinander Schach. Pro Zessor weiss nicht weiter. Melt Down, verzweifelt ab dem langen Warten, verabschiedet sich für 10 Minuten, um gegenüber einen Döner essen zu gehen. Pro Zessor beginnt, da sein Vorstellungsvermögen nicht so toll ist, auf dem Schachbrett mögliche nächste Züge auszuprobieren. Rechtzeitig vor der Rückkehr seines Gegners stellt er aber alle Figuren wieder an den ursprünglichen Platz und wähnt sich sicher.
Melt Down ist aber ausgefuchster, als er aussieht. Nach seiner Rückkehr schaut er flach über das Schachbrett und sieht, auf welchen Feldern weniger Staub liegt und kann damit die Strategie des armen Pro Zessor einmal mehr durchkreuzen [1].
… und Prozessoren
So ähnlich funktionieren auch die Meltdown- und Spectre-Angriffe gegen Prozessoren: Der Prozessor schaut immer etwas voraus, damit er so schnell ist, wie wir ihn uns wünschen. Allerdings hinterlässt dieses Vorausschauen (die Informatiker nennen das «spekulative Ausführung» bzw. ennet dem Teich «speculative execution») Spuren, ähnlich unauffällig und kurzfristig wie Staub. Aber wenn ein Gegner weiss, worauf er schauen muss, kann er auch schwächste Spuren deuten. Darüber hinaus ist es recht einfach möglich, den Prozessor dazu zu bringen, auf einem möglichst staubigen Schachbrett zu spielen und so noch mehr Spuren zu hinterlassen.
Aber wieso sind Prozessoren so naiv? Zuerst einmal sind sie darauf trainiert, alles zu machen, was ihnen der Programmierer befiehlt, solange es nicht explizit verboten ist. Zum anderen sind Prozessoren heute nur so leistungsfähig, weil sie hinter dem Rücken des Programmierers versuchen, Abkürzungen zu nehmen, die dann hoffentlich nicht auffallen.
Abkürzungen …
Wieso ist das alles nötig? Und wieso sind wir in dieses Schlamassel reingerutscht? Schauen wir etwas zurück.
Die ersten programmierbaren Computer entstanden in den 1940er-Jahren und bestanden aus Tausenden von Relais. Das Schalten ging langsam (Hunderstelsekunden), die Leitungen waren (nicht nur sprichwörtlich) lang. Mit der Zeit wurden die Schaltvorgänge durch Röhren und Transistoren immer schneller und die Übertragungswege durch kleinere Bauteile, weniger Abwärme und später integrierte Schaltungen immer kürzer.
Der Prozessor konnte Anfang der 90er inzwischen abermillionen Male in der Sekunde einen Befehl aus dem Speicher laden und ihn ausführen. Und den nächsten Befehl laden und ihn ausführen. Und den nächsten. Und noch einen. Und so weiter.
Doch wirklich schneller wurden die Schaltgeschwindigkeiten nachher nicht mehr. Und es kam dazu, dass der Hauptspeicher, das RAM, das ausserhalb des Prozessors liegt, zwar immer noch grösser, aber kaum mehr schneller wurde.
… und Tricks
Den Bedarf an schnelleren Prozessoren konnte man also kaum mehr einfach durch Verkleinerung der Komponenten erfüllen [2]. Also mussten Tricks her, damit es weiterhin so aussah, als ob schön brav ein Befehl nach dem anderen ausgeführt werde, aber intern mehrere Befehle gleichzeitig abgearbeitet werden konnten. Das machte den Chip zwar komplizierter, aber Platz genug war ja da, da die Verkleinerung weiterhin voranschritt. Diese wichtigsten Tricks sind der Cache und die oben schon erwähnte spekulative Ausführung.
Auto = CPU?
Prozessoren stehen da nicht ganz alleine da. In vielen anderen technischen Geräten lief eine ähnliche Entwicklung ab: Über Jahrzehnte hinweg konnten sie schneller und kräftiger gemacht werden. Irgendwann ging aber nur noch kleiner, was aber häufig nicht mehr alle Bedürfnisse abdeckt. So auch bei den Autos: Da konnte vor Jahrzehnten noch viel aus dem Motor herausgekitzelt werden und Höchstgeschwindigkeit war ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal. Heute ist aus Sicht des Käufers am Motor kaum mehr etwas zu verbessern, also mussten andere Argumente her, wie z.B. schnellere Reaktionen oder kürzere Bremswege und die ganzen Assistenten, die es weiterhin erlauben, Zeit zu sparen, aber nicht mehr durch reale Erhöhung der Geschwindigkeit.
Wie funktionieren die Tricks?
Caching
Der eine Trick ist so weitverbreitet und bekannt, dass ihn wohl keiner mehr als Trick ansieht, obwohl er es ist: Caching. Der Trick besteht darin, so zu tun, als ob der Hauptspeicher schneller sei, als er wirklich ist. Deshalb werden Daten, die der Prozessor aus dem grossen Hauptspeicher lädt, zusätzlich im Prozessor noch in einem kleinen Zwischenspeicher (Cache) aufbewahrt. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass viele Speicherinhalte mehrfach verwendet werden. Ab der zweiten Verwendung müssen sie aber nicht mehr aus dem langsamen Hauptspeicher geladen werden, sondern kommen aus dem viel schnelleren Cache: Es wird ein viel schnellerer Hauptspeicher vorgegaukelt. Dieser Zeitunterschied ist für ein Programm messbar und eine wichtige Komponente des Angriffs.
Pipelining
Seit rund 75 Jahren funktionieren die Prozessoren nach folgendem einfachem Prinzip: Es werden der Reihe nach Befehle aus dem Hauptspeicher geladen und ausgeführt (grüner Ablauf). Seit gut 25 Jahren werden Befehle aber überlappend ausgeführt: Der nächste Befehl wird schon in Angriff genommen, bevor der vorherige fertig ist (blauer Ablauf, genannt Pipelining; je nach Prozessor und ausgeführtem Befehl kann die Anzahl Pipelinestufen variieren). Dem Programmierer wird aber nach wie vor vorgegaukelt, der Prozessor arbeite nach dem grünen Prinzip.
Pipelining ist vergleichbar mit der Herstellung von Autos am Fliessband: Der Zusammenbau eines einzelnen Autos dauert weiterhin mehrere Tage; trotzdem verlässt alle paar Minuten ein neues Auto die Produktionsstrasse. Ein riesiger Produktivitätsgewinn.
Dieses einfache Pipelining im Prozessor läuft gut, solange der Prozessor keine Entscheidungen treffen muss. Entscheidungen im Prozessor sind sehr häufig: Was macht der Benutzer gerade? Ist die Festplatte endlich bereit? Wo hat es noch Platz im Hauptspeicher? Ist die Eingabe gültig? Je nachdem, wie diese Entscheidung ausgeht, werden andere Befehle ab einer anderen Speicheradresse geladen und ausgeführt. Diese Änderung der Adresse, ab welcher der nächste Befehl ausgeführt wird, heisst «Sprung».
Pipelining im Prozessor unterscheidet sich aber in einer Beziehung grundlegend vom Montageband: Ein Produktionsschritt bei einem Auto kann bestimmen, dass alle nachfolgenden Autos ganz anders zusammengebaut werden sollen.
Zum Zeitpunkt der Ausführung des Sprungbefehls sind aber schon viele andere Befehle (braun in der Grafik rechts) in der Pipeline. Solange nicht klar ist, ob sie ausgeführt werden sollen oder nicht, kann bei einer einfachen Pipeline gar nichts passieren: Der riesige Geschwindigkeitsvorteil durch die Pipeline ist bei jedem Sprungbefehl dahin.
Spekulative Ausführung
Seit bald 25 Jahren wird deshalb bei einem Sprungbefehl die Pipeline nicht leer gelassen, sondern der Prozessor versucht vorherzusagen, ob ein Sprung genommen werden soll oder nicht. Wenn die Vorhersage sich als richtig herausstellt, ist unser Prozessor viel schneller als alleine mit Pipelining. Im anderen Fall müssen die Auswirkungen dieser schon ausgeführten Befehle wieder rückgängig gemacht werden (Undo, Rollback). Daher erfolgt das Zurückschreiben nicht mehr direkt wie oben, sondern in einen internen Speicher, damit sie von nachfolgenden spekulativ ausgeführten Befehlen verwendet werden können. Erst wenn klar ist, dass diese Befehlskette auch wirklich ausgeführt werden soll, werden diese internen Zustände an die richtigen Stellen geschrieben; im anderen Fall wird dieser interne Zustand einfach weggeworfen. Diese Schlussphase wird als Pensionierung («retiring») der Instruktion bezeichnet.
Schauen wir uns das Beispiel in der Grafik an: Der erste Befehl wird bearbeitet, muss aber beim Laden eines Wertes auf den langsamen Hauptspeicher warten. Der nächste Befehl ist ein Sprungbefehl, der vom Resultat der vorherigen Instruktion abhängt. Da dieses noch nicht bereit ist, gibt es eine Sprungvorhersage und die nachfolgenden Befehle werden spekulativ ausgeführt. Erst, wenn klar ist, ob diese Vorhersage richtig war, wird entschieden, ob das interne Resultat weggeworfen oder offiziell wird.
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